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Ökonomie aus postkolonialen Zusammenhängen

Dieser etwas sperrige Titel gibt eine inhaltliche Klammer zum einen für Ökonomen, die es aus dem globalen Süden heraus geschafft haben, sich „mit ihrer Stimme“ (Spivak et al. 2008), also  ihren Ideen und theoretischen Konzepten in der entwicklungstheoretischen Diskussion zu platzieren. Zum anderen werden hier auch Ökonomen vorgestellt, welche einer in weiten Teilen unreflektierten Übernahme der ‚Idee des modernen Westens’ alternative Theorien entgegensetzen. In diesem Kapitel steht also im Zentrum die Perspektive auf ‚Entwicklung’ aus der westlichen Hemisphäre heraus zu nehmen und andere – alternative oder multiple – Verständnisse von ‚Entwicklung’ und Moderne zuzulassen (Aßner 2011). Der Blick auf die Liste der Ökonomen verrät es bereits: Auch hier ist die Mehrheit der theoriegeschichtlich behandelten Ökonomen örtlich in den ‚entwickelten Ländern’ zu finden. Mit Raúl Prebisch und Fernando Cardoso werden aber zwei wichtige Vertreter lateinamerikanischer Theorieschulen vorgestellt.

Alle hier vorgestellten Ökonomen verfolgen heterodoxe – also gegen die mehrheitliche (orthodoxe) Lehr- und Forschungsmeinung inausgehende – Ansätze in ihrem Verständnis von Ökonomie unter Bedingungen des ‚globalen Südens’. Wichtige Bedingungen des ‚globalen Südens’ sind der Kolonialismus und die Anerkennung von historisch gewachsenen Strukturen zwischen Kolonialisierten und Kolonisierern, die auch heute noch ihre Wirkung zeigen, die zu einem – zumindest in weiten Teilen – postkolonialen Verständnis der Ökonomie geführt haben.

Weiterführende Literatur:

Aßner, Manuel (2011): (K)eine postkoloniale Entwicklungsökonomie in Sicht? Eine Spurensuche in Theorie und Praxis. In: Aßner, Manuel/ Jessica Breidbach/ Abdel Amine Mohammed/ David Schommer/ Katja Voss (Hrsg.): AfrikaBilder im Wandel?. Frankfurt a.M.: Peter Lang. S. 221 – 232.

Spivak, Gayatri Chakravorty/ Alexander Joskowicz/ Stefan Nowotny/ Hito Steyerl (2008): Can the subaltern speak?: Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus: Es kommt darauf an. Wien: Turia + Kant. Vol. 6.

 a) Raúl Prebisch (1901 – 1986)

Hier kann das Werk Raúl Prebischs nur kurz im Ansatz erläutert werden. Dies wird hier vor allem mit dem Fokus auf die entwicklungspolitische Ausrichtung der auch als Cepalismo bekannten Theorie getroffen.

Raúl Prebisch kann als einer der einflussreichsten (Entwicklungs-) Ökonomen aus den Ländern des globalen Südens gelten (Nohlen 1999). Er vertrat mit seiner Theorie zur strukturellen Benachteiligung der ‚Entwicklungsländer’ ein dichotomes Modell von Peripherie und Zentrum. Mit der als ISI – Importsubstituierenden Industrialisierung – bekannt gewordenen Strategie entwarf er eine Antwort auf die dominante Idee der Integration in den Weltmarkt, die sehr großen Anklang vor allem in Lateinamerika fand.

Grundlage für das Modell der ISI ist die Analyse der Terms of Trade. Als Terms of Trade wird das monetäre Tauschverhältnis bezeichnet, in dem Import und Exportware zueinander stehen. Raúl Prebischs‘ wichtige Erkenntnis bestand darin, dass die ‚Entwicklungsländer’ Rohstoffe und andere Rohprodukte exportieren, hingegen sie Industrie- und andere Fertigprodukte importieren müssen. In einem Vergleich des realen Tauschwerts – Rohstoffe gegen Industrieprodukte – fand Raúl Prebisch einen kontinuierlich schlechter werdenden Tauschwert zu ungunsten der ‚Entwicklungsländer’. ‚Entwicklungsländer’ mussten in seiner Analyse beständig mehr Waren exportieren, um die gleiche Menge an Importen aus den Industrieländern zu erhalten. Sie gaben damit beständig mehr aus und waren dabei in einer strukturellen Abhängigkeit der globalen Ökonomie gebunden – der Grund für ihre ‚Unterentwicklung’. Diese Analyse war bahnbrechend für die entwicklungsökonomische und -politische Debatte und sie ist es zum Teil bis heute (Nohlen 1999: 318). Zum anderen rief die Theorie eine Reihe Kritiker auf den Plan, welche die Analyse – vor allem durch die von ihm getroffene Auswahl des betrachteten Zeitfensters und der betrachteten Güter – in Frage stell(t)en.

Zentral an dieser an dieser ‚strukturalistischen’ Theorie ist die Lösung die Raúl Prebisch so nachdrücklich forderte: Die ‚Entwicklungsländer’ müssen sich unabhängig von den ‚Industrieländern’ entwickeln und ihre eigene Industrialisierung vorantreiben. Protektionismus gekoppelt mit einer staatlichen, auf den industriellen Sektor ausgerichteten Investitionspolitik war deshalb die politische Empfehlung der Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL), deren Direktor Raúl Prebisch von 1950 bis 1963 war. Die lateinamerikanische Umsetzung ISI-Entwicklungsstrategie war letztendlich aber auch ein wichtiger Grund für die Schuldenkrise einiger lateinamerikanischer Länder in den 80er Jahren.

Raúl Prebisch verfolgte mit dem von ihm entwickelten Verständnis von Entwicklung eine ‚Modernisierung’ der Entwicklungsländer. Er wählte die ISI als ein Mittel unter  den Bedingungen einer globalen, diese Länder strukturell benachteiligenden Handels- und Wirtschaftsstruktur (Aßner 2011: 224). Sein Verständnis von ‚Entwicklung’ ist daher mit ‚modernisierungstheoretisch unter postkolonialen Bedingungen‘ am besten zu beschreiben.

 Weiterführende Literatur:

Aßner, Manuel (2011): (K)eine postkoloniale Entwicklungsökonomie in Sicht? Eine Spurensuche in Theorie und Praxis. In: Aßner, Manuel/ Jessica Breidbach/ Abdel Amine Mohammed/ David Schommer/ Katja Voss (Hrsg.): AfrikaBilder im Wandel?. Frankfurt a.M.: Peter Lang. S. 221 – 232.

Nohlen, Dieter (1999): Raúl Prebisch. Das Zentrum-Peripherie-Modell der internationalen Wirtschaftbeziehungen. in: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 40 (11). S. 316-319.

Prebisch, Raúl/ Johann Lorenz Schmidt/ Karl Heinz Domdey (1968): Für eine bessere Zukunft der Entwicklungsländer: ausgewählte ökonomische Studien. Berlin: Die Wirtschaft.

Prebisch, Raúl(1984): Five Stages of my Thinking on Development. In: G.M. Meier/ D. Seers (Hrsg.): Pioneers in Development. New York: Oxford University Press.

b) Fernando Henrique Cardoso (1931 - )

Die Vita von Fernando Cardoso hat sowohl von den Institutionen und Lebensstationen aber auch hinsichtlich der entwicklungspolitischen Ausrichtung viele Überschneidungen mit der von Raúl Prebisch, ILPES, FLACSO, CEBRAP und viele andere Institutionen waren wichtige Stationen von Fernando H. Cardoso, die er oft in leitender Funktion prägte oder sogar selbst mit gründete. Politisch war Fernando H. Cardoso in Brasilien in unterschiedlichen sozialdemokratischen Parteien in seinen Lebensweg aktiv, unter anderem nachdem er 1994 die Präsidentschaftswahl gewann und über zwei Amtsperioden hinweg die Führung Brasiliens als Präsident übernahm. Fernando Cardoso ist einer der prägenden Theoretiker der Dependencia-Ansätze.

‚Abhängigkeit und Entwicklung’ ist für Fernando Cardoso das wichtige Begriffspaar seiner Analysen (Nohlen/ Zilla 2000: 288). Im Mittelpunkt seiner Theorie steht ein strukturalistischer Ansatz, welcher die historisch gewachsene Handels- und Beziehungsstruktur zwischen der Peripherie und Zentrum als Ursache für die ‚Unterentwicklung’ Lateinamerikas benennt. Diese zugrunde liegende Struktur führt in seinem Verständnis notwendigerweise zu einem peripheren bzw. Abhängigkeiten produzierenden abhängigen Kapitalismus in den ‚Entwicklungsländern’. Zwei zentrale Aspekte an Fernando H. Cardosos Theorie sind entscheidend. Erstens ist seine Theorie eine adaptive, d.h. sie ist kein geschlossenes Theoriegebäude. Sie basiert auf der jeweils detaillierten Analyse der historischen und aktuellen Gegebenheiten und bietet lediglich ein gut analysiertes und argumentiertes Gerüst des Grundverständnisses. Zweitens beinhaltet sein Verständnis direkte und indirekte Systeme der (post-)kolonialen Abhängigkeit. Die von Raúl Prebisch eingebrachten Terms of Trade sind dabei eine indirekte Abhängigkeit. Das Verhalten multinationaler Konzerne in Lateinamerika ist für Cardoso hingegen die direkte Form der Abhängigkeit im peripheren Kapitalismus.

Seine Kritik bisheriger Ansätze zur ‚Entwicklung’ richtet sich im Wesentlichen auf zwei Argumentationslinien bisheriger Theorien. Die Begriffe ‚Entwicklung’, ‚Moderne’ und ‚Unterentwicklung’ haben ihre Bedeutung aus einem hierarchischen, modernisierungstheoretischen Verständnis der Welt, in der der Westen als Vorlage für die ‚Entwicklung’ anderer Regionen dient (Aßner 2011: 223) –„Wie im Westen, so auf Erden“ (Sachs 1993). Zum anderen ist Entwicklung einseitig auf die „wirtschaftliche Entwicklung“ im Vergleich zu anderen Nationen fokussiert. Andere Formen von Entwicklung finden keinen Eingang in die Debatte. Für Fernando H. Cardoso spielen darüber hinaus Abhängigkeiten innerhalb der Länder eine große Rolle. Die notwendige Schlussfolgerung Fernando H. Cardosos war damit die Erkenntnis, dass auch unter den strukturellen Bedingungen von ‚Dependenz’ eine ‚abhängige Entwicklung’ möglich ist (Nohlen/ Zille 2000: 290). Damit widersprach er in einem wesentlichen Punkt vor allem dem marxistischen Verständnis von Entwicklung, deren Ziel es war die ‚Dependenz’ zu überwinden (Frank 1969). Zentral für Fernando H. Cardosos Verständnis von ‚abhängiger Entwicklung’ ist also der Mix aus kontextabhängigen internen und externen Faktoren für ein Land, welche die Entwicklungsmöglichkeiten bestimmen. ‚Entwicklung’ ist nach seiner Theorie immer möglich - wenn sie nicht als Abweichung vom dominant-westlichen System (Modernisierungstheorie) oder als notwendiger Bruch mit bestehenden Abhängigkeiten ([marxistische] Dependenztheorie) definiert wird.

Weiterführende Literatur:

Aßner, Manuel (2011): (K)eine postkoloniale Entwicklungsökonomie in Sicht? Eine Spurensuche in Theorie und Praxis. In: Aßner, Manuel/ Jessica Breidbach/ Abdel Amine Mohammed/ David Schommer/ Katja Voss (Hrsg.): AfrikaBilder im Wandel?. Frankfurt a.M.: Peter Lang. S. 221 – 232.

Cardoso, Fernando Henrique, Enzo Faletto (1969): Dependencia y desarollo en América Latina. Mexico/Buenos Aires: siglo veintiuno.

Cardoso, Fernando Henrique (1972): Estado y sociedad en América Latina. Buenos Aires: Nueva visión.

Cardoso, Fernando Henrique (1981): Die Entwicklung auf der Anklagebank. In: Peripherie 5/6. S. 6-31.

Frank, André G. (1969): Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.

Nohlen, Dieter, Claudia Zille (2000): Fernando Henrique Cardoso. Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika. in: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 41 (10). S. 288-291.

c) Albert O. Hirschman (1915 - )

Ob Albert Hirschman mit seiner hier vorgenommenen Einordnung als „postkolonialer Entwicklungstheoretiker“ einverstanden wäre, bleibt eine zu klärende Frage. Jedoch führt die Fähigkeit sich ständig selbst und vor allem bestehende Theorien und Erklärungsansätze kritisch zu hinterfragen und die Fähigkeit sich selbst zu korrigieren zum einen zu seiner hier vorgenommenen Einordnung. Zum anderen führt das Verständnis von ‚Entwicklung’ als das Suchen nach bisher versteckten Potenzialen und der Möglichkeit von ‚unbalanced growth’ ebenfalls zu dieser Einordnung.

Es gibt viele Gedanken und Ansätze die sich auf seine Arbeit zurückführen lassen, jedoch bildet das Wirken von Albert O. Hirschman keine kohärente und in sich geschlossene Theorie. Vielmehr sind seine Beiträge kritische Ansätze, welche sich bestens eignen bestehende Denkschulen zu hinterfragen. Ausgehend von einer Betrachtung der Machtstrukturen im Außenhandel begründete er die Annahmen einer Dependenz der so genannten ‚Entwicklungsländer’, räumte ihnen aber durchaus Befreiungsmöglichkeiten aus dieser Abhängigkeit ein – eine wichtige Modifizierung der Theorie von André G. Frank, Wallerstein, Prebisch und anderen. Sein innovativer Ansatz des ‚unbalanced growth’ beinhaltet den wichtige Ansatz die in einem ‚Entwicklungsland’ vorhandenen finanziellen Ressourcen auf einzelne, ausgewählte Bereiche zu lenken und ‚Linkages’ zu nutzen, um ausgehend von diesen Investitionen weitere Bereiche der Ökonomie mit Investitionen zu stimulieren. Als ‚Linkages’ werden dabei als die Verbindungen bezeichnet, die aus einem Sektor oder Bereich der Wirtschaft in andere Bereiche durch den Verarbeitungsprozess oder den Handel entstehen. Bei der Investition in erneuerbare Energien durch Windkraft wird bei lokaler Produktion nicht nur die Fertigung der Windräder gefördert, sondern durch ‚backward linkages’ die Eisenverhüttung und durch einen weiteren ‚backward linakge’ auch die Bauxitmine. Neben diesen klassischen ‚linkages’ lassen sich noch weitere wie beispielsweise fiskalische und Konsum identifizieren, die sich alle für einen entwicklungspolitischen Ansatz des ‚unbalanced growth’ eignen und deren gezielte Analyse die Effizienz von entwicklungspolitischen  Investitionen bereits im Vorfeld besser einschätzen lässt.

Ein wichtiger und viel zitierter Baustein aus dem Werk Albert O. Hirschman ist sein im Buch ‚Exit, Voice and Loyality. Responses to decline in Firms, Organizations and States’ (Hirschman 1970) formuliertes Verständnis von gesellschaftlichen Formen der Kritik an bestehenden Institutionen und Strukturen. Die zwei alternativen Formen ‚exit’ und ‚voice’ sind wichtig für das Verständnis von Veränderungen und vor allem der Geschwindigkeit mit der sich Veränderungen ergeben. Dazu zählt für Albert O. Hirschman auch, dass wenn Veränderung (im Sinne von Entwicklung) gewünscht ist, Strukturen für ‚voice’ vorhanden sein müssen. Eine sehr wichtige Erkenntnis hieraus ist beispielsweise, dass kostenloser ‚exit’ auch ‚voice’ verhindern kann. Veränderungen werden durch kostenlose Alternativen und dies ist ein wichtiger Grund, warum ‚Entwicklung’ in vielen Fällen verhindert wird.

Albert O. Hirschmans Ansätze und Ideen hier umfassend zu beschreiben würde den Rahmen sprengen. Für die weitere Literatur zu empfehlen sind die unten aufgelisteten, ausgewählten Aufsätze von ihm.

Weiterführende Literatur:

Hirschman, Albert O. (1943): "The Commodity Structure of World Trade." The Quarterly Journal of Economics Vol. 57 (4). S. 565-595.

Hirschman, Albert O. (1957): "Investment Policies and 'Dualism' in Underdeveloped Countries.". In: The American Economic Review 47, H. 5. S. 550-570.

Hirschman, Albert O. (1958): The Strategy of Economic Development. New Haven, Conn.: Yale University Press.

Hirschman, Albert O. (1968): "The Political Economy of Import-Substituting Industrialization in Latin America.". In: The Quarterly Journal of Economics Vol. 82 (1). S. 1-32.

Hirschman, Albert O. (1970): Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge: Harvard University Press.

Hirschman, Albert O. (1981): Essays in trespassing: economics to politics and beyond. Cambridge, New York: Cambridge University Press.

Hirschman, Albert O. (1987): "The Political Economy of Latin American Development: Seven Exercises in Retrospection.". In: Latin American Research Review 22, H. 3. S. 7-36.

Hirschman, Albert O. (1993): "Exit, Voice, and the Fate of the German Democratic Republic: An Essay in Conceptual History." World Politics Vol. 45 (2). S. 173-202.

Nitsch, Manfred und Philipp Lepenies (2000): Albert O. Hirschman. Ungleichgewichtiges Wachstum – und die Neigung zur Selbstsubversion. In: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 41 (1). S. 19-21.

d) Paul R. Krugman (1953 - )

Viele Ökonomen würden Paul R. Krugman in einer Aufzählung einflussreicher westlicher Entwicklungsökonomen sicherlich nicht auflisten. Zu prominent sind seine Beiträge zur Theorie des internationalen Handels und zur Theorie der wirtschaftlichen Integration von Regionen. Es ist letztlich Paul R. Krugmans Verdienst den Erkenntnissen der linkages des Querdenkers Albert O. Hirschman die entsprechende Aufmerksamkeit gegeben zu haben. Auf Basis steigender Skalenerträge[1] in Verbindung mit der Ablehnung der neoklassischen Hypothese der vollständigen Konkurrenz  begründete Paul R. Krugman seine ‚neue Außenhandelstheorie’. Ein wichtiger Bestandteil dieser Theorie – und damit auch die Begründung für die Aufnahme in diesen Überblick wichtiger Entwicklungstheoretiker – sind die Handelsbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie. Für Paul R. Krugman ist die Peripherie durch landwirtschaftliche und damit auf Naturressourcen basierender Produktion gekennzeichnet. Mit dem industriell geprägten Zentrum kommt es zum Austausch von Produkten zwischen beiden. Wichtige Bedingung dieses Handels sind die Transportkosten. Ein Austausch zwischen Zentrum und Peripherie findet nur statt, wenn die Kosten für diesen Austausch niedrig sind. Auch zeigt Paul R. Krugman in seinem Modell, dass sich Produktion nicht einfach - wie von anderen Theoretikern oft behauptet –in das Land mit den niedrigeren Lohnkosten verlagert, da Effekte wie horizontale linkages im Zentrum und ‚technologische Spill-over’ ebenso von großer Bedeutung sind, soweit die Transportkosten nicht null betragen.

Wichtigste Erkenntnis des Modells Paul R. Krugman ist die Notwendigkeit eigenständiger wirtschaftlicher Entwicklung für Länder der Peripherie. Weder niedrige Transportkosten, geringe Lohnkosten noch ein offener Marktzugang führen ‚automatisch’ zu einer Ansiedlung von Industrie in der Peripherie, wie es in der bisherigen (Handels)Theorie oft vertreten wurde. Paul R. Krugman bestätigt und ergänzt damit die These Albert O. Hirschman von der Abhängigkeit der so genannten Entwicklungsländer und liefert eine gute theoretische Begründung für eine teilweise Beschränkung des vollständigen Wettbewerbs. Ungleich der Logik der Freihandelstheorie zeigt das Modell Paul R. Krugmans, dass freier Handel unter ungleichen Voraussetzung die jeweilige Position der Länder im Zentrum und der Peripherie noch verstärkt – und damit zu einem gegenteiligen Effekt als von den handelsliberalen Theoretikern postulierten Gewinn für alle führt. Paul R. Krugmans Theorie lässt sich im Hinblick auf die entwicklungsökonomische Theorie so definieren, dass Länder in der globalen Peripherie eigene Politiken zur Industrialisierung entwerfen müssen. Eine reine Eingliederung in den Weltmarkt verstetigt ihre globale Position und hat keine entwicklungspolitischen Effekte.

Weiterführende Literatur:

Brakman, Steven and Harry Garretsen (2009): Trade and geography: Paul Krugman and the 2008 Nobel prize in economics. CESifo working papers 2528. München: Center for Economic studies.

Kappel, Robert(1999): Paul R. Krugman. Die neue Außenhandelstheorie und die Ungleichheit der Nationen. In: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 40 (1). S. 179-182.

Krugman, Paul R. (2009): Internationale Wirtschaft: Theorie und Politik der Außenwirtschaft. München: Pearson Studium

Krugman, Paul R. (1995): Development, geography and economic theory. Cambridge: MIT Press.

Krugman, Paul R. (1994): Geography and trade: Leuven: Leuven University Press.


[1] Steigende Skalenerträge lassen sich so erklären, dass für die Produktion eines einzelnen Gutes A bereits die notwendigen Maschinen und Arbeiter für dessen Produktion angeschafft werden mussten. Würde nur ein Gut A produziert, so müsste sich in dessen Preis die gesamten Investitionen sowie die Gewinne des Unternehmers niederschlagen. Werden von diesem Gut A nun Millionen produziert, so findet sich in jedem einzelnen Gut A nur ein kleiner Anteil der Investitionskosten. Der Preis je Gut A kann damit sinken, da der Anteil der Investionskosten je Gut sinkt – bei gleichzeitgem Steigen der Erträge für den Unternehmer, der zu einem niedrigeren Preis mehr Güter A verkaufen kann. Steigende Skalenerträge sind damit die wichtigste theoretische Begründung für Massenproduktion von Gütern.