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MemoriAntônia - die Seele der Gebäude

Rua Maria Antônia heißt die Straße, in der sich 1968 die philosophische Fakultät der Universität São Paulo befand. Die Fakultät war eine Keimzelle der studentischen Proteste gegen die Militärdiktatur. Das Gebäude verwandelte sich in ein Schlachtfeld, auf dem ein junger Gymnasiast sein Leben lassen musste. Nach den Straßenkämpfen und ersten Todesopfern wurden die Fakultätsräume von der Militärregierung geschlossen. Ausgerechnet hier richtete das Regime ein Verwaltungsbüro für die Gefängnisse von São Paulo ein. Nach Ende der Diktatur 1985 bekam die Universität die Gebäude schrittweise zurück und nutzt sie heute als Kulturzentrum. Eines der Nebengebäude stand bis 2003 leer.

Kann ein Gebäude etwas über die „Seele“ jener Kämpfe und Bewegungen erzählen? Welche Spuren haben sie im Gedächtnis der Orte hinterlassen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt eines Erinnerungsprojekts, das die deutschen Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitz, zusammen mit der brasilianischen Künstlerin Fulvia Molina – die selbst 1968 in der Maria Antônia studiert hatte – zwischen 2001 und 2003 dort erarbeiteten. Gemeinsam begaben sie sich vor dem Abriss des verlassenen, nur von Tauben bewohnten Gebäudes auf Spurensuche. Sie schnitten Objekte aus den Wänden, sammelten Bruchstücke in den verlassenen Räumen, suchten nach Scherben der Vergangenheit.

Erinnerung bezieht sich gewöhnlich auf Personen und nicht auf leblose Objekte. Aber die Kunst verkehrt diesen Gemeinplatz. Seelenlose Gebäude können dann Zeugnis von der eigenen Erinnerung ablegen. Und was sagen sie uns? Dass sie eine menschliche Erinnerung haben.

Horacio González, argentinischer Philosoph, im Katalog zur Ausstellung, 2004.

Zudem luden sie die ehemaligen Studenten von 1968 in die verlassenen Räume ein und befragten sie vor der Kamera an diesem historischen Ort nach den Kämpfen und Idealen ihrer Jugend.

„Für viele von ihnen war es das erste Mal in fünfunddreißig Jahren, dass sie dieses Gebäude betraten. Es war, wie ein Grab zu öffnen.“

Fulvia Molina

In zwei großen Ausstellungen, im Kulturzentrum Maria Antônia in São Paulo (2003) und im Kongressgebäude der Bundeshauptstadt Brasília (2004) montierten die Künstler die Fundstücke des Ortes mit den Erzählungen der ehemaligen AktivistInnen. In den Zwischenräumen zwischen den Worten und den Dingen sollte der Besucher dem Geschehen und seiner Bedeutung nachspüren.

Dabei tritt der Besucher zuerst in einen dunklen Raum, in dem – abhängig davon, wie nah sich der Besucher an die Vitrinen heranbewegt – Lampen aufleuchten. Das Licht dient hier als Metapher für die archäologische Arbeit des Gedächtnisses, das sowohl an den Ort wie auch an die Gegenwart gebunden ist. Am Ende des Raumes läuft ein Monitor mit den Bildern des Abrisses und der Umbauarbeiten am Nebengebäude. In Vitrinen sind Fundstücke aus dem brachliegenden Haus ausgestellt, etwa Wand- und Bodenteile, die von den Künstlern ausgewählt, herausgetrennt und konserviert wurden. Daneben wurden die dazugehörigen Fundorte auf großformatigen Fotos abgebildet. Wenn die Besucher nah genug kommen, schalten sich automatisch Fernsehbildschirme an und übertragen Fragmente aus den Interviews.

Auf riesige transparente Zylinder druckte Fulvia Molina vergrößerte Fotografien von verschwundenen oder ermordeten AktivistInnen. Deren Namen standen auf der Anwesenheitsliste einer studentischen Versammlung, die ihr einer der Interviewten gab. Die jungen Gesichter auf den durchsichtigen Zylinder haben etwas Gespenstisches.

“They are ghost-like images, brought to the present after a long time of lethargy. This memory seaks to us of a time, a place, a possibility of a joint project (...). They were our martyrs, we were all struggling for freedom, experience, creation, knowledge and each other’s wellbeing. They appear as ghosts. Where did they come from? Would it be from an unknown future?”

Fulvia Molina

Auf den Bildschirmen sind hingegen reife Menschen zu sehen, die sich – ausgelöst von der Neugierde der Künstler - den gleichen Fragen wie damals stellen. Interessant ist, dass viele der ehemaligen AktivistInnen heute, wie in Deutschland oder Frankreich auch, einflussreiche Persönlichkeiten an wichtigen Schaltstellen der brasilianischen Gesellschaft sind und nun selbst einflussreiche Positionen in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft innehaben. Die Ausstellung hinterfragt somit auch, wie viel von den '68er-Idealen heute noch nachwirken und wie viel beim Marsch durch die Institutionen zur Macht auf der Strecke geblieben ist.

Ein Ausschnitt aus der Ausstellung „MemoriAntônia – Die Seele der Gebäude war im Oktober 2006 im Ibero-Amerikanischen Institut zu sehen.

Inga Kleinecke / Anne Huffschmid