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Tucumán Arde - Tucumán brennt

 

Ich denke, alle Kunst ist politisch. (81)

Graciela Carnevale 

 

Unter diesem Titel fand Ende 1968 sowohl in der argentinischen Industriestadt Rosario als auch in der Hauptstadt Buenos Aires eine Ausstellung statt. Zwei Wochen lang wurde in den Räumen des Gewerkschaftsdachverbandes Confederación General del Trabajo de los Argentinos (CGTA) in Rosario über die Verschlechterung der Lebensbedingungen in Tucumán seit 1966 aufgeklärt. Die für Buenos Aires geplante Ausstellung wurde nur wenige Stunden nach der Eröffnung von der Polizei geschlossen. Aber hinter dem Namen verbirgt sich weitaus mehr: „Tucumán brennt“ kann als Metapher für ein künstlerisches Aufbegehren gegen die Militärdiktatur wie auch als Suche nach neuen künstlerischen Artikulationskanälen verstanden werden.

 

Tucumán brannte nicht im buchstäblichen Sinn, aber die grassierende Armut in der Region, hervorgerufen durch die Rationalisierungsmaßnahmen des Militärregimes, waren ein brandheißes Thema. Die Provinz Tucumán im Nordosten Argentiniens ist bekannt für den Anbau und die Verarbeitung von Zuckerrohr. Zum Zweck der Rationalisierung wurden im August 1966 12 von insgesamt 37 Zuckerfabriken geschlossen. Zwar hatte diese vom Onganía-Regime eingeleitete neoliberale Wirtschaftspolitik letztlich keinen Erfolg. Das Ergebnis aber war ein Anwachsen der Armut und in der Folgezeit die Abwanderung von 200.000 Menschen. Die Verschlechterung der desolaten Wirtschaftslage und der Lebenssituation wurde damals breit in den Medien debattiert.

 

Am 10. und 11. August 1968 lud die Grupo de Arte de Vanguardia KünstlerkollegInnen und andere Intellektuelle, darunter JournalistInnen und SozialwissenschaftlerInnen, zum Primer Encuentro Nacional del Arte de Vanguardia in Rosario ein. Die Teilnehmer tauschten ihre Ansichten zum Marxismus und zur Kubanischen Revolution aus, diskutierten über die aktuelle Lage in Argentinien und suchten nach Handlungsoptionen. Sie sahen sich direkt verantwortlich für die Mitgestaltung einer gesellschaftlichen Entwicklung und setzten sich zum Ziel, mit ihrer Kunst nicht nur einen „bourgeoisen“ Elitezirkel zu unterhalten, sondern eine breite Bevölkerung anzusprechen und aufzuklären. Die verschlechterten Lebensbedingungen in Tucumán standen im krassen Gegensatz zur offiziellen Darstellung der Provinz als Jardín de la República, als Garten der Republik. Hierin sahen einige KünstlerInnen und andere Intellektuelle eine Gelegenheit zum Handeln – und kreierten einen Jardín de la Miseria, einen Garten der Armut.

 

Mitte September 1968 reisten vier Künstler aus Buenos Aires und Rosario nach Tucumán, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen und erste Kontakte herzustellen. Ab dem 22. Oktober sammelte die Gruppe eine Woche lang Wirtschaftsdaten, Dokumente, Bilder, Film- und Tonaufnahmen, um über eine möglichst breite und informative Materialbasis zu verfügen. Parallel zur zweiten Reise nach Tucumán am 22. Oktober startete die Informationskampagne zum Jardín de la Miseria. Anfangs tauchte nur das Wort Tucumán zusammen mit Fotos von Fabriken hier und da in den Straßen von Santa Fé und Rosario auf, meist neben Werbeanzeigen plakatiert. Auch in Eingängen von kleinen Kinos wurden die Besucher mit dem Slogan und mit Diaprojektionen konfrontiert. In einer zweiten Phase der Kampagne erschienen die Wörter Tucumán Arde an Häuserwänden in Rosario und Buenos Aires. Nur wenige Tage vor ihrer Ausstellung in Rosario initiierten die Künstler die dritte Phase der Kampagne: Plakate luden zur Eröffnung der I Bienal de Arte de Vanguardia am 3. November in den Räumen des Gewerkschaftsdachverbandes CGTA ein. Der Besucherandrang in Rosario war schließlich dermaßen groß, dass die Ausstellung letztlich eine Woche länger als ursprünglich geplant andauerte. In der Hauptstadt Buenos Aires wurde die Ausstellung wenig später am 25. November 1968 im Haus der Grafikergewerkschaft eröffnet, aber nach nur wenigen Stunden von der Polizei geräumt.

 

Das Jahr 1968 kennzeichnet in Argentinien die Radikalisierung einer ganzen Generation. Neben StudentInnen und ArbeiterInnen trifft dies ebenso auf den Kulturbereich zu. Kulturschaffende aus den Bereichen bildende Kunst, Film, Journalismus und andere Intellektuelle produzierten Kunst mit stark politisierten Inhalten. Und diese „Politkunst“ stellte nicht nur das herrschende politische System infrage, sondern zugleich auch den ganzen Kulturbetrieb. Als Dreh- und Angelpunkt für die sich in den 60er Jahren politisierende Künstlerszene gilt das im Juni 1958 gegründete Instituto Di Tella, wo sich KünstlerInnen jenseits der etablierten Szene zusammenfanden und Protestaktionen veranstalteten. Ein Beispiel ist die im Frühjahr 1966 ausgestellte Homenaje al Viet-Nam in Buenos Aires, bei der etwa 200 KünstlerInnen, darunter Quino, der Erfinder der Comicfigur Mafalda, und die für ihre Happenings bekannte Marta Minujín, ihren Protest gegen den Vietnamkrieg ausstellten. León Ferrari präsentierte sein Werk La civilización occidental y cristiana. Ricardo Carreira zeigte La Mancha de sangre, einen immensen Blutfleck, dargestellt durch einen klebrigen, roten Kunstfaserteppich, der den Boden der Galerie bedeckte. Während die Zusammenarbeit der verschiedenen Künstler in Buenos Aires loser Natur war, zeichnete sich die in Rosario gegründete Grupo de Arte de Vanguardia durch einen festeren Gruppenzusammenhalt aus und bespielte regelmäßig ihren eigenen Ausstellungsraum Ciclo de Arte Experimental mit künstlerischen Aktionen. In einer Art Manifest vom September '68 (A propósito de la Cultura Mermelada) brachte sie ihre Abscheu vor der offiziellen und etablierten Kunstszene zum Ausdruck.

 

Tucumán Arde war eine innovative, riskante und provozierende Kollektivarbeit, die den Versuch einer Synthese von Kunst und Politik unternahm. Künstlerische Praxis wurde zur Form politischer Aktion im Rahmen einer oppositionellen Mobilisierung. Tucumán Arde steht demnach nicht nur für die gleichnamige Ausstellung, sondern auch als Synonym für die Revolte gegen die Militärdiktatur, aber auch gegen künstlerische Konventionen hin zu einer neuen Ästhetik. Seit den 60er Jahren hat es in Argentinien immer wieder Versuche der theoretischen und praktischen Verknüpfung von Kunst und Politik gegeben. Ein Beispiel ist El Siluetazo aus dem Jahr 1983, als Tausende von menschlichen Silhouetten aus Papier an den Häuserwänden in Buenos Aires zu sehen waren, in Anspielung auf die „Verschwundenen“ der letzten Militärdiktatur. Auch die heute aktiven Künstlergruppen Etcétera sowie Grupo de Arte Callejero sind eng verbunden mit der Menschenrechtsarbeit der H.I.J.O.S. (Hijos por la identidad y la justicia, contra el olvido y el silencio) seit deren Anfängen Mitte der 90er Jahre.

 

Ein aktuelleres Beispiel ist die Arbeit des 27-jährigen Künstlers Leandro Iniesta. Im Jahr 2004 zierte sein Graffiti mit den Worten „Tucumán sigue ardiendo“ („Tucumán brennt weiter“) diverse Häuserwände in Buenos Aires. Ebenso wie das Künstlerkollektiv im Jahr 1968 recherchierte er Daten bezüglich der Lebensbedingungen in Tucumán. Er wählte einen öffentlichen Ort der Präsentation, um auch Menschen außerhalb der begrenzten Kunstkreise zu erreichen. Sogar der damalige Bruch mit dem Instituto Di Tella findet seine Fortsetzung in Iniestas Ablehnung, sein Werk heute in dem etablierten staatlichen Kulturzentrum Centro Cultural Recoleta auszustellen. Im Gespräch betont Iniesta seinen Glauben an eine Kunst, die offen ist für jeden, eine „öffentliche Kunst“ mit der Macht, ihren Kontext zu verändern. Tucumán Arde markiert für ihn einen essentiellen Moment, der die argentinische Kunstszene in ein Vorher und ein Nachher teilt. Tucumán Arde sei eine Form von Kunst, „die ihrer gesellschaftlichen Umwelt nicht fremd ist“. (82)

 

Christian Tinz