Springe direkt zu Inhalt

Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit unter Druck

Diktaturen und Militär in Lateinamerika: Forschungsgegenstände und Anlässe für Stellungnahmen zugleich.

Diktaturen und Militär in Lateinamerika: Forschungsgegenstände und Anlässe für Stellungnahmen zugleich.
Bildquelle: Freie Universität Berlin/ Lateinamerika-Institut, Brasilien-Projekt. Abschlußbericht. Militär in Lateinamerika. Grenzen der Durchsetzbarkeit der wirtschaftlichen und politischen Strategien südamerikanischer Militärdiktaturen, Berlin 1980 [Publikation aus der Bibliothek IAI SPK].

In den 1970er-Jahren stellten die politischen Konfrontationen und die Militärdiktaturen in verschiedenen Ländern Südamerikas die Mitglieder des Lateinamerika-Instituts vor eine neue Aufgabe. Diese bestand darin, eine der Situation entsprechend angemessene Position sowohl nach innen als auch nach außen zu vertreten. Um 1974 und 1975 entwickelten sich die Debatten zu einem wahren Balanceakt, galt es doch nach Auffassung der Institutsangehörigen angesichts der Entwicklungen vor allem in Argentinien, Brasilien und Chile eine klare Stellung zu beziehen. Wiederholt versuchten sie, sich gegenüber der Universität und der Bundesregierung Gehör zu verschaffen, um den Druck auf die verantwortlichen Personen zu erhöhen.

Zugleich bewegten sich die Institutsmitglieder in einem Spannungsfeld, das durch die internationale Solidarität, die Auffassungen von akademischer Freiheit und den Forderungen nach objektiver Wissenschaft beeinflusst wurde. Die Ankündigung einer Lehrveranstaltung eines Assistenten über argentinische Gewerkschaften im Wintersemester 1975/76 sorgte beispielsweise kurzzeitig für Aufregung. Die gegenwärtige Gewerkschaftsbürokratie hatte dieser als „rechtsgerichtet bis faschistoid“ bezeichnet, was prompt einen Anruf der Rechtsabteilung des Präsidialamts hervorrief. Diese habe rechtliche Bedenken geäußert, da Kommentare zu Lehrveranstaltungen keine ideologischen Inhalte aufweisen dürften.26

Auch in den Folgejahren blieb die Herausforderung bestehen, sich einerseits wissenschaftlich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika von Berlin aus oder auch vor Ort im Rahmen von Dienstreisen und Exkursionen zu beschäftigen. Andererseits musste stets zwischen akademischer Distanz und der deutlichen Positionierung zum Geschehen in verschiedenen Kontexten abgewogen werden.

 

Begründung des dem Institutsrat des Lateinamerika-Instituts vorgelegten Entwurfs einer Resolution zur Situation in Argentinien und Brasilien vom Oktober 1974:
„Der rechtsradikale Terror hat in Argentinien in den letzten Wochen ein erschreckendes Ausmaß angenommen. […] [Es erscheint aber] – anders als z.B. bei den von der Regierung fast unkontrollierbaren brasilianischen Todesschwadrons [sic!] – nicht aussichtslos, über eine internationale Öffentlichkeit und dem daraus folgenden Druck auf die argentinische Regierung diesem Terror in beschränktem Maße entgegenzuwirken. Jedenfalls betrachtet die in diese Situation gestellte Exkursionsgruppe des Instituts es als seine Pflicht, dieses Mittel mindestens zu versuchen und nicht nur als Zuschauer danebenzustehen.“23
Entwurf einer Resolution zur sogenannten Flüchtlingsfrage gerichtet an den Präsidenten der Freien Universität Berlin von Ende 1973:
„Der IR des LAI fordert den Präsidenten der FU auf, bei der Bundesregierung schärfstens gegen diese Verschleppung konkreter Maßnahmen zur Einreise von Flüchtlingen aus Chile in die BRD zu protestieren, die die Opfer der Militärdiktaur [sic!] weiterhin den unmenschlichen Bedingungen in chilenischen Konzentrationslagern und Gefängnissen aussetzt.“24

Der Bericht einer Teilnehmerin der 1974 durchgeführten Exkursion nach Argentinien zum Thema „Die Chancen der 2. Peronistischen Regierung in Argentinien in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“ stellt gleichermaßen den Spagat zwischen Idealen und Wirklichkeit in den 1970er-Jahren unter Beweis, der auch von den Studierenden gefordert wurde.

Auszug aus einem rückblickend verfassten Bericht einer Studentin über die Argentinien-Exkursion, im Rahmen derer eine Gruppe von acht linksgerichteten Studierenden zwei Tage in einem Gefängnis in Buenos Aires verbringen musste und vergeblich auf Unterstützung der Deutschen Botschaft und der Freien Universität Berlin hoffte:
„Staunend erlebten wir die große Stadt Buenos Aires […]. Auf der anderen Seite erlebten wir verstört und empört den Niedergang der argentinischen Demokratie, einer Staatsform, die wir daheim in Deutschland eher verächtlich, aber auch als selbstverständlich betrachtet hatten. […] Um drei Uhr mitten in der Nacht nach der Beerdigungsdemonstration für den ermordeten Rechtsanwalt Silvio Frondizi stürmten mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten in Uniform unser kleines Hotel […] [Nach unserer Rückkehr nach Berlin] […] redeten die Verantwortlichen im LAI auf uns ein, und wir schwiegen in der Folge, kein Gang an die Öffentlichkeit, nicht einmal heftige interne Diskussionen. Wir trauten uns ja selbst nicht mehr, wir so kläglich gescheiterten Revolutionäre, die es gerade mal geschafft hatten, im Gefängnis Lieder zu singen.“25

  

23 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1974-1976, Vorlage für den Institutsrat, Entwurf Resolution (4.10.1974).
24 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Beschlußvorlage für den Institutsrat.
25 Annemarie Cordes, Unveröffentlichter, autobiografischer Bericht über die Argentinien-Exkursion des Latein-Amerika-Instituts (LAI) der FU Berlin im Sommer 1974, geschrieben 2016 im Rahmen einer Schreibwerkstatt.
26 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1974-1976, Nachrichtliche Aktennotiz eines Assistenten an die Mitglieder des Institutsrats (23.6.1975).