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Futbología, Fußballogie, Futebologia

Fußball war das große Thema in einem von Stefan Rinke und Luis González Toussaint geleiteten Projektmodul des MA-Studiengangs Interdisziplinäre Lateinamerikastudien, in dem Geschichtswissenschaft und bildende Kunst eine produktive Symbiose eingingen. In einer Vernissage am LAI stellten die Künstler ihre Werke vor. 

Geschichte des Fußballs in Lateinamerika in einem globalen Kontext 

Im Kontext der Fußball-WM von 2006 zeigte sich mit aller Deutlichkeit, dass dieser Sport ein großes Thema unserer Zeit ist. Fußball ist längst mehr als nur Körperertüchtigung und Freizeitbeschäftigung: Fußball ist ein enormer Wirtschaftsfaktor, er prägt Lebensstile und er war seit seinen Anfängen bis in unsere Tage politisch relevant. In den Augen mancher Enthusiasten ist er die letzte wirkliche Leidenschaft. Weniger pathetisch ausgedrückt, ist Fußball sicherlich einer der wirksamsten sozialen Mobilisierungsmechanismen unserer Tage.
Die Gründe für die Attraktivität des Fußballs sind oft wissenschaftlich untersucht worden, doch laufen die Erklärungen immer wieder auf vier wesentliche Faktoren hinaus:
1. seine Anspruchslosigkeit: Fußball kann man überall spielen. Keine teure Ausrüstung ist nötig, nicht einmal ein Ball.Die Regeln sind so einfach, dass selbst Fünfjährige sie meist problemlos verstehen.

© Luis Gonzáles

2. seine Körperbetontheit: Damit werden bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Männlichkeitsideale angesprochen.
3. die mit ihm verbundene Aufregung und Emotionalität: Diese verwirklichen sich vor allem im Erlebnis der Masse, das als großes Erlebnis von Gemeinschaft gedeutet werden kann. Gleichzeitig bietet Fußball im Verständnis von Elias als Spektakel auch eine Ventilfunktion für überschüssige Aggressionspotenziale.
4. sein Ritualcharakter: Durch die ständigen Wiederholungen des wöchentlichen Spiels und Stadiongangs, des jährlichen Saisonablaufs etc., durch standardisierte Fangesänge und -kleidung werden kollektive Handlungsweisen eingeübt, die große Faszinationskraft erzielen.

Was in großen Teilen der Welt gilt, trifft auf Lateinamerika noch in verstärktem Maß zu. Fußball löst in Lateinamerika sogar noch mehr Euphorie aus als andernorts. In weiten Teilen Lateinamerikas spielt Fußball eine enorm wichtige Rolle nicht nur im kulturellen Leben. Fußball ist mehr als nur ein Spiel, das man praktiziert, mehr als ein Produkt, das man konsumiert.Fußball ist auch ein Spektakel, über das man noch lange nachdenkt, und das große Thema, über das man spricht.

Andreas Haase (Mitte) vor seinen Exponaten. Ganz rechts Luis González Toussaint.

 © Stefan Rinke

Hinzu kommt, dass in dieser oft als "Kontinent der Katastrophen" dargestellten Weltregion der Fußball einer der wenigen positiven Exportartikel ist. Fußball ist somit in viel größerem Maßstab als etwa in Europa eine Quelle der Identität auf regionaler, nationaler und kontinentaler Ebene sowie eine Inspiration für die künstlerische und literarische Produktion.

Die grundsätzliche Heterogenität Lateinamerikas schlägt sich auch in unterschiedlichen Entwicklungen im Fußball nieder, wenn man etwa die beiden Extremfälle Brasilien und Nicaragua miteinander vergleicht. Insgesamt lassen sich vielfältige Unterschiede z.B. in den Entwicklungsgeschwindigkeiten erkennen. Eindeutig hat der so genannte südliche Kegel, und dabei innerhalb der dazu zählenden Länder Argentinien, Chile, Brasilien und Uruguay v.a. die Haupt- und Hafenstädte, eine klare Vorreiterrolle gespielt und hat diese größtenteils immer noch inne.

Die Anfänge des Fußballs

Der moderne Sport, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, zeichnete sich durch seine Organisation und Systematisierung aus. Feste Regeln, regelmäßiges Training und Wettbewerbe, die Zähl- und Messbarkeit der Rekorde waren Charakteristika, die ihn von frühneuzeitlichen Spielpraktiken unterschieden. Dabei bestand eine enge Beziehung zur sozio-ökonomischen Entwicklung, da der Sport auch einen Weg darstellte, um sich an die zunehmende Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels, die strikte Zeiteinteilung und die Umstände der neuen Lebensstile mit ihrer Tendenz zur Individualisierung zu gewöhnen. Ferner ging die Entstehung des modernen Sports einher mit einer Welle der Globalisierung, die das ausgehende 19. Jahrhundert prägte. Für Lateinamerika hieß dies konkret eine zunehmende Weltmarkteinbindung und in den Ländern des Cono Sur auch zunehmende Urbanisierung und Masseneinwanderung. In kultureller Hinsicht mischten sich damit neue Elemente in den ohnehin schon seit Jahrhunderten stattfindenden Hybridisierungsprozess.

Julia Zahn vor Andreas Haases Fotomosaik „Giganten des Fußballs“

© Stefan Rinke

Der moderne Sport kam aus dem damaligen Zentrum des Weltsystems Europa Ende des 19. Jahrhunderts nach Lateinamerika. Genauer waren es die europäischen Händler, Seeleute und Unternehmer, die sich auch in dieser Hinsicht als Sendboten der Moderne erwiesen. Die Vorreiterrolle spielten kaufmännische und technische Angestellte aus England, der zu diesem Zeitpunkt eindeutigen Hegemonialmacht in Lateinamerika. Die frühe Geschichte des Fußballs in Lateinamerika ist eine Geschichte des Kulturtransfers. Dieser wiederum war Teil der ersten Globalisierungswelle und der Einbindung Lateinamerikas in den kapitalistischen Weltmarkt.

Diese Einbindung war keineswegs aufgezwungen. Aus Sicht der dominanten oligarchischen Oberschichten war eine Entwicklung "a la inglesa" absolut unabdingbar, um den Stand der Zivilisation zu erreichen, den man als Entwicklungsziel anstrebte, und um die den lateinamerikanischen Gesellschaften mit ihrer ethnischen Vielfalt vermeintlich innewohnende Barbarei zurückzudrängen. Auch neue Formen der Geselligkeit wurden in diesem Zeitraum gesucht und das englische Vorbild des Clubs von Gentlemen erschien als nachahmenswertes Modell. Die Anfänge des Fußballs zur Geschichte Lateinamerikas zeigen einerseits das hohe Maß an transnationaler Verflechtung in dieser frühen Phase der Globalisierung. Andererseits sind sie ein beeindruckender Beleg für die rasche Kreolisierung kultureller Einflüsse in Lateinamerika im frühen 20. Jahrhundert. Außerdem weisen die Verquickung des Fußballs mit Fragen von Politik, nationaler Identität, und sozialen Problemen auf die gesamtgesellschaftliche Dimension des Fußballs hin.

„Giganten des Fußballs“

© Stefan Rinke

Volkssport oder Nationalsport?

Schon sehr früh wurde der Fußball aus der Perspektive lateinamerikanischer Politiker zu einem wichtigen Werbeelement. Dabei ergänzten sich unterschiedliche Faktoren. Lateinamerika erlebte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, also just in dem Zeitraum, in dem der Fußball dort seinen Siegeszug antrat, eine erste Welle der Urbanisierung, des Aufstiegs der Mittelschichten und der Entwicklung neuer Medien, die sich insbesondere visueller Mittel bedienten. Politisch begleitet wurden diese Entwicklungen mit dem Aufstieg des klassischen Populismus, der seit den späten 1920er-Jahren zunächst in Peru, dann in Chile, Brasilien und Argentinien Triumphe feierte.

Die Nutzung des Mobilisierungspotenzials des neuen Sports sich ließ schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erkennen, als die Jahrhundertfeiern der Unabhängigkeit in vielen Ländern von Fußballturnieren flankiert wurden. Bereits zu diesem Zeitpunkt bestanden enge personelle Verflechtungen zwischen den Funktionären der Fußballverbände und der Politik.  Nach dem Ersten Weltkrieg, als die lateinamerikanischen Teams internationale Erfolge feierten, schmückten sich die Staatspräsidenten vieler Länder der Region mit den Erfolgen.

Lisa Mitschke: Argentinien 78: Fußball und Folter. © Stefan Rinke

In Brasilien war dies bereits in den 1920er-Jahren Gang und Gäbe, doch perfektionierte erst Getulio Vargas dieses System. Unter Vargas wurde Fußball seit den 1930er-Jahren als Quelle nationalen Stolzes und als Aktivposten der angestrebten nationalen Integration gegen die Macht der Einzelstaaten aktiv genutzt. Ähnlich sah die Funktionalisierung des Sports im Nachbarland Argentinien unter Perón aus. Perón setzte Fußball zielgerichtet zur Massenmobilisierung u.a. mit dem Ziel der „Volkshygiene“ ein und ließ den Tag des ersten Sieges gegen die englische Nationalmannschaft 1953 zum nationalen "Tag des Fußballers" ausrufen. Eine neue Dimension erreichte die Vereinnahmung des Fußballs durch die Politik dann in der Phase der Militärdiktaturen ab 1964. Es mag genügen, hier an einen der bekanntesten Fälle zu erinnern, die WM 1978 in Argentinien. Die Generäle wollten diesen Anlass planmäßig nutzen und in der Tat löste der erste argentinische Weltmeistertitel enorme Begeisterung im ganzen Land aus. Allerdings – und darauf ist wiederholt hingewiesen worden – feierten nicht alle Argentinier den Vorstellungen der Militärs gemäß.

Von links: Valia Tchoukova, Stefan Rinke, Christian Piarowski, Lisa Mitschke, Andreas Haase -
weitere Mitglieder des Ausstellungsteams (nicht im Bild): Liliana Bordet, Maria Clara Zuñiga, Luis González Toussaint, Dania Schüürmann, Susann Ihle.
© Stefan Rinke

Fußball und Gesellschaft

Gewalt ist in lateinamerikanischen Fußballstadien eine Alltäglichkeit. In den Anfängen des Fußballs im 19. Jahrhundert handelte es sich noch um einen Elitensport, in dem Fairness-Ideale eine wichtige Rolle spielten. Allerdings kam durch die zunehmende Vermassung des Sports ein Element der Gewalt hinzu, das aus Sicht der Oligarchie schon bald bedrohliche Ausmaße annahm. Die seit den 1920er-Jahren kontinuierlichen Klagen in der führenden Presse über den vermeintlichen Verfall der Kultur, der mit Gewaltproblemen verbunden sei, sind ein beredter Ausdruck für die Erkenntnis der Virulenz des Problems einerseits und der Hilflosigkeit der Beobachter andererseits. Zusätzlich zum allgemeinen Gewaltphänomen war rassistisch motivierte Gewalt eine typische Erscheinung im lateinamerikanischen Fußball, die eine lange Geschichte hatte und in den Sport hineingetragen wurde. Afrobrasilianische Fußballenthusiasten reagierten auf rassistisch motivierte Ausgrenzungsbemühungen, indem sie schon früh eigene Clubs gründeten. Ausnahmeerscheinungen wie Leônidas, Varela oder Pelé sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass rassistische Vorurteile selbst den brasilianischen Fußball lange vergifteten. Ins positive gewendet, leben diese Vorurteile teils noch heute in der These von der genetisch bedingten, quasi natürlichen Überlegenheit afrobrasilianischer Fußballer weiter.

Die Tendenz, nach der sich spielerische Qualität letztlich durchsetzte, war allgemein in der Geschichte des Fußballs in Lateinamerika erkennbar. In den Anfängen handelte es sich eindeutig um ein Spiel der gesellschaftlichen Oberschichten, das wie die Weltmarktintegration als solche, mit dem es nach Lateinamerika kam, die breite Masse der Bevölkerung ausschließen sollte. undproAls bald klar wurde, dass die Unterschichten sich Fußball auf Dauer nicht verbieten ließen, wollte man den Sport als Instrument der Volksbildung und –zivilisierung einsetzen – ein Vorhaben, das wie gesagt noch bis in die Zeit des klassischen Populismus hinein verfolgt wurde.
Fußball spiegelt Grundprobleme der lateinamerikanischen Gesellschaften mit ihrer ausgeprägten sozialen und ethnischen Heterogenität wider. An der Geschichte des Fußballs im 20. Jahrhundert lassen sich sowohl die Demokratisierungsprozesse als auch die Fortdauer von Konfliktlinien und von sozialer Ungleichheit erkennen. In gewisser Hinsicht ist Fußball zu einem Ersatzmechanismus für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte geworden. Gleichzeitig ist er ein Phänomen der Massenkultur, deren Aufstieg nicht nur die Geschichte Lateinamerikas nachhaltig geprägt hat.

Ísis Fernandes Pinto (Mitte), Der spielerische Fußball.

© Stefan Rinke

 

Fußball als Geschäft

Mit dem Aufstieg der Massenkultur aufs engste verflochten war die Kommerzialisierung des Fußballs. Mit der raschen Verwandlung von einem Teilnehmer- in einen Zuschauersport ging eine Wettbewerbsorientierung einher, die dazu führte, dass Fußball zunehmend um des Triumphes willen gespielt wurde, wodurch einerseits der Identifikationswert stieg, sich andererseits aber auch der Marktwert erhöhte. Die damit einhergehende Kommerzialisierung schlug sich wie in Europa zunächst in der allgemeinen Professionalisierung sowie später in der Globalisierung des Sports als mediales Konsumgut nieder.
Nicht nur in Lateinamerika kam bei der Suche nach den besten Spielern schnell Geld ins Spiel und in den 1920er-Jahren war die Bezahlung der Fußballer bereits ein offenes Geheimnis.

 Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Professionalisierung noch einmal eine neue Dimension an. Lateinamerikanische Fußballer sind heute ein Exportschlager in Europa. Die enge Verquickung von Wirtschaft und Sport hat sich fortgesetzt. Auf internationaler Ebene hat ein Lateinamerikaner, der Brasilianer João Havelange von 1974 bis 1998 als Präsident der FIFA die Kommerzialisierung und Globalisierung des Sports entscheidend vorangetrieben.

„Exportprodukte“. © Stefan Rinke

Der Globalisierungsschub, der den Fußball unserer Zeit prägt und zu einem weltweiten Kommerzspektakel umgeformt hat, ist ohne den Aufstieg der Massenmedien nicht zu denken. Die Entstehung des Massenspektakels Fußball war auch in Lateinamerika aufs Engste verbunden mit dem Aufstieg neuartiger Massenmedien wie zunächst den Illustrierten, dann dem Kino und dem Radio und schließlich dem Fernsehen. Bereits bei den ersten Auslandsreisen lateinamerikanischer Teams in den 1920er-Jahren wurden Journalisten mitgenommen, um die Spiele als nationales Großereignis zu vermarkten. Frühzeitig wurde auch das Werbepotenzial des Fußballs entdeckt.

Auf den ersten Blick erscheinen Kommerzialisierungs- und Globalisierungsprozesse des Fußballs mit denen in Europa austauschbar, ja identisch. Aber welche Wirkungen hatten diese Entwicklungen angesichts der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in soziokultureller Hinsicht im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts? Wie haben die Zuschauer diese Transformationen wahrgenommen und wie darauf reagiert? Auf diese Fragen gibt es bislang noch keine befriedigenden Antworten.

Ísis Fernandes Pinto: Fußball und andere Mythen.

© Stefan Rinke

 

Spektakel der Massen und Männlichkeitskult

Der medial inszenierte Fußball prägt immer mehr die Lebensstile eines stetig wachsenden Anteils der Weltbevölkerung. Dies gilt auch für Lateinamerika, wo der Sport den Lebensrhythmus in Städten und Familien insbesondere am Sonntagnachmittag vorgibt.

Wiederholt ist auf die geradezu religiöse Dimension der Verehrung der Fußballclubs durch die hinchas, hingewiesen worden, die inzwischen häufig den Gang zur Messe ersetzt. Diese reicht bis hin zur Anrufung überirdischer Kräfte, um den Sieg der eigenen Mannschaft herbeizuflehen.
Der Bezug des Fußballs auf ein zunächst besonders mit England verbundenes Ideal männlicher Härte und Körperlichkeit war eine der Grundlagen seines Erfolgs. Während einige Elemente dieses Ideals wie zum Beispiel die Ablehnung des Professionalismus mit der Zeit untergingen, erhielten sich andere bis auf den heutigen Tag. So galt denn auch die Gewalt der Spieler gegeneinander als durchaus wünschenswertes Element dieses "Männersports".
Woher kommen diese Geschlechterdiskurse im Fußballsport? Sicherlich besteht eine enge symbolische Beziehung zwischen dem Sport und den Grundlagen der spezifisch lateinamerikanischen Moderne. Initiationsriten und Maskulinisierung des Selbst können durch den Fußball erlebt werden. Gleichzeitig erfuhr auch Lateinamerika seinen Trend zur verlängerten Adoleszenz und zur Huldigung der Jugendlichkeit, die sich im Fußball ausleben lassen und die sich im 20. Jahrhundert vertieften.

Ísis Fernandes Pinto und Dania Schürmann: Quartett schwarzer Körper. © Stefan Rinke

 

Fußball und Geschichte Lateinamerikas

Die Geschichte des Fußballs in Lateinamerika ist ein Thema, das die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Subkontinents von den 1890er-Jahren bis zur Gegenwart betrifft. Bereits in den Anfängen im späten 19. Jahrhundert wurde ein hohes Maß an transnationaler Verflechtung deutlich. Allerdings wurde der Fußball in Lateinamerika rasch angeeignet und den eigenen Ansprüchen gemäß umgeformt. Das Endergebnis war ein Beispiel kultureller Hybridität, das auch in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht relevant wurde. Aufgrund der spezifischen Ausgangslage in Lateinamerika war die Verbindung von Fußball und Politik hier von Anfang an besonders eng. Oft wurde der Sport von den Mächtigen instrumentalisiert, doch oft entfaltete er auch ein subversives Potenzial, das bisher nur ungenügend erforscht ist. Das lag nicht zuletzt an der starken sozialen und ethnischen Heterogenität der lateinamerikanischen Gesellschaften, die sich an bestimmten Entwicklungen des Fußballs zeigen lässt. Als gesamtgesellschaftliches Phänomen hatte der Fußball auch teil an der Kommerzialisierung und Globalisierung der Lebensstile. Er ist damit ein Phänomen der Massenkultur, über deren Geschichte in Lateinamerika wir bisher noch zu wenig wissen. Schließlich ist der Fußball auch und gerade in Lateinamerika eine "Arena der Männlichkeit", deren Bedeutung aus der Sicht einer historischen Anthropologie und Geschlechterforschung erst noch zu erforschen ist.
Als eines der letzten wirkmächtigen nationalen Integrationsmittel in einer postnationalen Zeit ist der Fußball – insbesondere die Weltmeisterschaft – heute gleichzeitig das am meisten globalisierte, transnationale Medienereignis.

In Lateinamerika lebt der Fußball mit diesem nur scheinbaren Paradoxon gut. An seiner Geschichte lässt sich erkennen, wie stark Lateinamerika in den Weltkontext eingebunden ist, wie es bestimmte Erfahrungen teilt, wie aber eben auch bestimmte Erfahrungen unter den Bedingungen einer transnationalen, multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft sich verändern. Diese Besonderheit Lateinamerikas als Labor einer multiplen Moderne macht den Reiz des Studiums gerade der Geschichte dieses Subkontinents aus.

Valia Tchoukova und Susann Ihle: Lateinamerikanische Sommermärchen in Berlin 2006 (Video-Installation).

© Stefan Rinke

 

Ísis Fernandes Pinto: Fußball und andere Mythen. © Stefan Rinke