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Karoline Noack: Transkription

Karoline Noack: Transkription des Interviews

J. - Frau Karoline Noack, vielen Dank, dass Sie heute hier zu uns gekommen sind, Sie kommen ja quasi nach Hause zurück. Wie fühlt es sich an für Sie, hier wieder zu sein?

K. N. - Merkwürdig (lacht) Ja, nach… acht Jahren fast, vor acht Jahren habe ich das Institut verlassen und das war in diesem Raum, wo wir das Abschiedsfest gefeiert haben, also den Abschiedssekt getrunken haben, ja, da erinnere ich mich noch sehr genau, und… aber ich bin zwischendurch auch immer mal wieder da gewesen. Es besteht schon ein Kontakt nach wie vor zum Institut.

J. - Sehr gut. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist das Thema Identität. Wie würden Sie Ihre eigene Identität als Wissenschaftlerin definieren, oder wo würden Sie sich wissenschaftlich verorten?

K. N. - Ja, also ich bin Altamerikanistin und Ethnologin, und ich verstehe die Altamerikanistik als eine Spielart, als eine Variante der Ethnologie. Ich sehe mich damit an einem Schnittpunkt von recht vielen disziplinären Grenzlinien, also Grenzlinien, die unterschiedliche Disziplinen für sich wahrnehmen, und als Altamerikanistin sehe ich mich diese Grenzlinien überschreitend. Also, die Altamerikanistik ist ein Fach, das in der langen historischen Dauer forscht, wir gehen eben mit den Überlegungen und auch mit den Forschungen bis zurück bis in die vorspanische Zeit und kommen aber auch bei der Gegenwart an, beziehungsweise gehen von der Gegenwart aus in die vorspanische Zeit zurück, über die Zeit der Unabhängigkeit in Lateinamerika, die Kolonialzeit; wir versuchen, das alles in den Blick zu nehmen. Das ist ein Punkt zu der Frage, der andere ist, dass wir natürlich mit sehr vielen Quellen dadurch auch zu tun haben, also wir arbeiten mit archäologischen Quellen, wir arbeiten mit materiellen Quellen, mit Objekten, mit Bildmaterial, überhaupt mit visuellem Material, und mit Texten, und das bringt es auch mit sich, dass wir natürlich… uns in den Museen sehr stark zuhause fühlen und uns in Sammlungen gerne bewegen. In Bonn haben wir auch eine eigene Sammlung ethnographischer und archäologischer Objekte, die für meine Arbeit auch sehr wichtig ist. Also das ist eine zweite Identität, Museumsstudien, Arbeit über Sammlungen, materielle Kultur, visuelle Kultur.

J. - Sie haben gerade selber schon die verschiedenen Quellen angesprochen, mit denen Sie gerne arbeiten. Was ist bei der Arbeit mit diesen Mitteln besonders, und gibt es eine Art von Quellen, mit denen Sie besonders gerne arbeiten?

K. N. - Ja auch hier reizt es mich besonders, mehrere Quellen zu verwenden und die in ein gemeinsames Konzept oder in einen gemeinsamen Kontext zu bringen. Also zum Beispiel, materielle Quellen, zum einen aus archäologischen Grabungen oder aus dem Museum, dann diese materiellen Objekte in den schriftlichen Quellen, in den Notariatsquellen der Kolonialzeit zum Beispiel, wiederzufinden -das gelingt bei Textilien sehr gut- und dann diese Textilien weiterzuverfolgen bis hinein in die Gegenwart, was durch ethnologische Studien gelingt, und so die… ja, man kann von Agency, von Handlungsmacht von Objekten ja auch reden, in Bezug auf Textilien wird das sehr offensichtlich, die so herauszuarbeiten, über diese verschiedenen Quellengattungen, aber im Bezug auf ein Objekt, die Textilien, zum Beispiel.

 

J. - Mhm. Sie entwickelten ein Interesse für die Andenländer Lateinamerikas. Was führte Sie zu diesem regionalen Schwerpunkt?

K. N. - Ja das war eigentlich eher Zufall (lacht). Ich habe ja an der Humboldt Universität studiert, bis 1988, also noch in DDR-Zeiten, und da war das Studium der Ethnographie, wie es hieß, sehr stark reglementiert, was die Zahl der Studierenden betraf. Also wir waren nur zwölf Studierende in der Seminargruppe und es wurde überhaupt nur alle drei Jahre… wurden Studierende zugelassen. Das heißt, für die Studierenden hatte man, also war sozusagen ein Berufsweg schon vorgesehen, wenn man dort anfing. Wir studierten nicht so in den freien Raum, um dann mal zu schauen, wo wir landen, sondern das war schon reguliert, und ich wurde dann im Laufe des Studiums gefragt, ob ich mich nicht mit den Andenländern beschäftigen wollte, also eigentlich war mein Interesse Mexiko, und… Aber für Peru oder für die Andenländer gab es niemanden, der in den Museen arbeitete. Und da das Museum für mich ein attraktives Arbeitsfeld war, habe ich zugestimmt und habe mich dann ab dem dritten Studienjahr auf die Andenländer spezialisiert.

 

J. - Wie kam es zu ihrem ersten Aufenthalt in einem dieser Länder?

K. N. - Das war erst nach der Wende. Ich hatte vorher ein Promotionsthema, das ich auf der Basis von Literatur, von Quellen, von gedruckten Quellen, die vorhanden waren, hätte bearbeiten können. Und nach der Wende war dann natürlich mein erstes Ziel, tatsächlich mal nach Peru zu reisen, und habe dafür tatsächlich auch nochmal mein Promotionsthema gewechselt. Also ich hatte ja vorher ein Thema, das sich mit der vorspanischen Zeit beschäftigt hat, mit Fragen der Staatstheorie, des Rechts, des Eigentums, des Privateigentums, dieses Thema hatte sich eingeordnet in eine Weltgeschichte des Staates und des Rechts, die geplant war; ich sollte dazu einen Beitrag leisten in Bezug auf den Inka-Staat, und nach der Wende habe ich dann meinen Forschungsschwerpunkt auf die Kolonialzeit verlagert. Das heißt, ich wollte mit Quellen arbeiten, die in Archiven zu finden sind, und bin dann zu diesem Zweck nach Peru gefahren, nach Lima und nach Trujillo, um dort vor Ort in den Archiven zu recherchieren.

 

J. - Sie haben gerade gesagt, dass ihr wissenschaftlicher Werdegang an der HU Berlin in der ehemaligen DDR begann. Nahm die politische Situation in der DDR einen Einfluss auf ihren wissenschaftlichen Werdegang?

K. N. - Ja, sicher, also das ist glaube ich in jedem Land der Fall. Ich sagte ja schon, dass es sehr schwierig war, einen solchen Studienplatz zu bekommen. Ich habe mich auch lange darauf vorbereitet, ich musste selbst drei Jahre lang warten, ehe ich dann zugelassen wurde. Ich hatte vorher schon in einem Museum gearbeitet, und das hat dann dazu sehr stark beigetragen, einen dieser Studienplätze bekommen zu haben, und… wir haben Ethnologie oder Ethnographie studiert zusammen mit Leuten, die sich eben mit Europa beschäftigt haben, oder mit Afrika, mit Asien… Also da gab es nicht diese Trennung zwischen europäischer und außereuropäischer Ethnologie nicht, was sehr positiv war, und das war auch politisch gewollt. Der andere Punkt waren natürlich die Auslandsreisen. Also es gab schon Ethnologen, die ins Ausland auch gefahren sind, unter bestimmten Bedingungen, wenn man in der SED war, oder wenn man bestimmte Aufträge hatte. Ich gehörte nicht dazu, und deswegen hatte ich mich auch für dieses andere Thema entschieden, das ich eben mit dem Material, das vorhanden war, hätte bearbeiten können. Nicht, also insofern der politische Einfluss, aber weiter ging der dann auch nicht.

 

J. - Sie promovierten im Fach der Altamerikanistik und habilitierten im Fach der Kulturanthropologie/Altamerikanistik. Wann genau und wodurch kam ihr Interesse, sich innerhalb der Altamerikanistik mit den Themen der Frauen- und Geschlechterforschung zu beschäftigen?

K. N. - Ja, ich bin ja nach der Wende dann sofort hierher gegangen, ans Lateinamerika-Institut, auch das Institut an der Humboldt-Uni wurde umgewandelt, das ist ja heute das Institut für europäische Ethnologie, also da hat man den ganzen außereuropäischen Teil dann rausgenommen und hat das praktisch aufgeteilt zwischen FU und HU. Und deswegen bin ich dann auch hierher gekommen, zu Jürgen Golte, zu dem Altamerikanisten, um hier zu promovieren, und hier war natürlich so ein Setting gegeben, schon zu Anfang der 90er Jahre, das aber nach und nach, dieser Schwerpunkt der Geschlechterstudien hat sich immer stärker herausgebildet, gekoppelt an eine Frauen- und Geschlechterpolitik an der FU. Und da war das LAI tatsächlich ein sehr, sehr schöner produktiver, kreativer Ort, der mich dann auch dazu gebracht hat, mein Promotionsthema, das ja noch nicht auf Geschlechterstudien bezogen war, so auszuweiten, ALSO dass ich auch begann, mich für die Geschlechtergeschichte auch in Bezug auf die Kolonialzeit zu interessieren.

 

J. - Eine methodische Frage: Welche gendertheoretischen Überlegungen sind ihrer Meinung nach wichtig in der Lateinamerika-Forschung?

K. N. - Ja, zum einen denke ich, dass allein gendertheoretische Überlegungen nicht ausreichend sind, sondern Gender im Kontext des Intersektionalitätsansatzes gesehen werden sollte und auch bearbeitet werden sollte, das heißt Gender, die Kategorie Gender, sollte immer in einem Zusammenhang mit anderen identitären Kategorien bearbeitet werden, analysiert werden, das heißt im Zusammenhang mit Ethnizität oder mit jeglicher Art von identitären Kategorien, auch sozialen, politischen, oder anders bestimmten Kategorien. Das ist das eine; der andere Punkt, der mir sehr wichtig erscheint, gerade, da wir als Altamerikanistinnen uns ja auch mit Nord- und Südamerika beschäftigen: Wenn ich mir Geschlechterstudien in Bezug auf Südamerika anschaue oder Lateinamerika, auch die Kolonialzeit betreffend und zum Teil auch die vorspanische Zeit betreffend, da sehe ich sehr stark europäische Vorstellungen von Geschlecht, die dort sich ihren Weg bahnen. Also man sucht zum Beispiel häufig nach dem sogenannten „Dritten Geschlecht“. Ja, also irgendwie gibt es schon die Idee, dass Geschlechterkonzeptionen…

…obwohl sich viele Forscherinnen und Forscher da nur wenig Gedanken machen. Zum Beispiel, wenn wir nochmal in die Kolonialzeit zurückgehen, wird die Kolonialzeit häufig als ethnisch strukturiert beschrieben, oder die Kategorien werden als ethnosoziale Kategorien begriffen, die Casta-Gesellschaft wird als typisch für die koloniale Gesellschaft gesehen und castas werden oft mit ethnischen Gruppen gleichgesetzt, was meiner Meinung nach so nicht funktionieren kann. Ich denke, dass wir sehr vorsichtig mit dem Begriff des Ethnischen… gerade weil er einer der gefährlichen Begriffe ist, wie Eric Wolf sagt, neben „Kultur“ und „Rasse“- „gefährliche Ideen“, nach Eric Wolf, einer der Autoren, die für mich sehr sehr wichtig sind, und wenn es darum geht, Ethnizität oder ethnische Identität zu definieren, dann können wir nur davon ausgehen, wie sie heute funktioniert in unserer Gegenwart oder in der Gegenwart der Länder, mit denen wir uns beschäftigen, wie zum Beispiel in den Andenländern. Ich denke nicht, dass wir ein Konzept entwickeln können, das nur für die Kolonialzeit gilt; das funktioniert einfach nicht, weil wir ja in der Gegenwart leben, und nicht abgetrennt sind von ihr und auch unsere Ausgangsposition als Forscher und Forscherinnen nicht losgelöst von gesellschaftlichen und politischen Prozessen entwickeln können; das heißt, wir können nur mit den Konzepten, wie sie auch heute operieren, auf der politischen Ebene oder in großen gesellschaftlichen Kontexten, bis hin aber auch in kleine kulturelle Räume, nur damit können wir arbeiten. Wenn wir das anders tun würden, wenn wir also mit vorgefertigten Ethnizitätskonzepten uns der Kolonialgesellschaft annähern würden, würden wir die Kolonialgesellschaft nochmals kolonisieren, also das ist meine feste Überzeugung. Ich unterscheide ja zwischen kolonialen Kategorien und kolonialisierten Kategorien, ja. Einmal, weil wir gerade vom Postkolonialismus gesprochen haben, das ist natürlich,… das sollte unterstrichen werden, das ist möglich im Kontext des Postkolonialismus zu zeigen, wie Identitäten kolonialisiert werden, bis heute, ja. Und da sprechen wir nicht mehr von kolonialen Identitäten, das sind kolonialisierte, und an diesen Konstruktionsprozessen nehmen Forscher und Forscherinnen häufig selbst teil, und das ist natürlich etwas, was wir verhindern sollten, denn das würde dann nicht mehr im Kontext der postkolonialen Studien stattfinden.

 

J. - Ja. Und vielleicht noch zur geschlechtlichen Identität?

K. N. - Ja, da ich ja immer vom Intersektionalitätsansatz ausgehe, ist das natürlich ganz stark daran geknüpft. Auch… ich nehme immer das Beispiel Bolivien so gerne, weil die Dinge da so schön offensichtlich sind; wenn wir uns die Verfassung von Bolivien anschauen, da spielt Geschlecht, die Kategorie Geschlecht, jetzt nicht die große Rolle, aber in der Politik von Evo Morales, oder in sich anschließenden oder auf der Grundlage der Verfassung verabschiedeten Gesetze schon. Und es gibt ja auch eine recht starke Frauenbewegung in Bolivien, und auch Evo Morales argumentiert sehr gerne mit der Kategorie Geschlecht, die eben in dem Konzept des Chachawamiliegt, also der Geschlechterparallelität und Geschlechterkomplementarität. Das sind übrigens zwei Konzepte 

Geschlechteridentitäten andere waren im vorspanischen Amerika und damit auch in der Kolonialzeit, aber so ganz anders kann man sich das nicht vorstellen, sondern dann kommt dieses Konzept vom dritten Geschlecht hinein, neben Mann und Frau. Und die Geschlechterstudien in Nordamerika oder bezüglich Nordamerika, lehren uns, dass es doch ganz andere Geschlechterkonzeptionen gibt, wo man eben mehr von Geschlechtergeraden spricht. Und da haben wir andere Ergebnisse, weil es eben auch Anthropologen sind, deren Native Americans selbst, die dort forschen und die dann dieses… nicht so eurozentrische Bild mit hineinbringen in den Diskurs. Und in Lateinamerika haben wir das nicht. Da müssen wir uns ganz genau anschauen wer forscht dort wirklich und welche Identitäten haben auch die Forscher oder Forscherinnen und welches Bild wird da reproduziert. Also meine Überzeugung ist, da wird ein Bild reproduziert, was die Forscher und Forscherinnen selbst mithineinbringen. Da gibt es nur ganz wenige Ausnahmen, die das nicht tun-eine von denen ist Mary Weismantel, die ja bald auch an die FU kommt.

J. - Da freuen wir uns sicherlich drauf! Sie haben grad schon den Begriff der Intersektionalität genannt. Auf welche Schwierigkeiten sind Sie in Ihrer Forschung gestoßen mit diesem Konzept zu arbeiten. Wie wird damit in Ihrer Disziplin damit umgegangen. Gibt es da Tabus?

K. N. - In meiner Disziplin, das ist dann die Anthropologie oder Ethnologie beziehungsweise Altamerikanistik, da gibt es sehr wenige nur, die sich überhaupt mit der Kolonialzeit beschäftigen. Also ich bin da eine von den Wenigen, die sich mit einer historischen Epoche, aber ausgehend von der Ethnologie oder Kulturanthropologie beschäftigen. Insofern gibt es in meiner Disziplin keine Tabus, weil diejenigen, die sich mit dem Intersektionalitätsansatz beschäftigen in der Anthropologie, denen ist der vertraut. Aber in der Geschichte denk ich, ist das schon, wird das vielleicht etwas anders gesehen. Aber von Tabus würde ich auch in dem Falle nicht sprechen. Ich habe eben festgestellt, bei der Bearbeitung meiner Quellen, dass es sehr schwierig ist, gesellschaftliche Position von Individuen zu bestimmen. Weil die von ganz vielen Kriterien abhängig sind und nicht nur von einem sozialen Kriterium oder politischen oder geschlechtlichen, kulturellen, identitären, wie auch immer man das definiert, sondern von einer ganzen Spannbreite. Und man muss da sehr viele Kriterien, Bedingungen, Kontexte zusammenbringen um überhaupt die koloniale Gesellschaft als solche erkennen zu können, also wonach ist sie strukturiert. Das ist eine sehr schwierige Frage und das geht nur mit dem Intersektionalitätsansatz.

 

J. - Sie haben gerade die Identität der Forschenden angesprochen. Inwieweit kann es problematisch sein, von Männern produzierte Quellen bei Forschungen über Gesellschaftsrollen von Frauen oder Ähnliches heranzuziehen. Wie sind Sie während Ihrer Forschung mit dieser Problematik umgegangen?

K. N. - Ja, über die Frage habe ich auch lange nachgedacht und ich würde da in den Vordergrund stellen, dass diese Quellen von Institutionen produziert worden sind. Natürlich sind die Institutionen auch von Männern getragen worden, aber die Frage ist ja wirklich wieder die Frage nach der Intersektionalität. Was steht jetzt hier im Vordergrund? Das Geschlecht der Männer? Oder die Institution? Oder muss man nicht…sollte man nicht beides in einem Dialog sehen und die Frage stellen: Wie interagieren Institutionen mit Menschen, also in in dem Falle mit Männern. Weil das ist wirklich ein Punkt der Frauen versagt war. Die sind ja so gut wie nie in Institutionen hineingeraten, also wenn nicht in die Institution der Kirche oder des Klosters. Und ich denke, dass trotzdem in den Dokumenten, in denen Frauen direkt zum Sprechen kommen, dass sich da auch ein Handlungsraum von Frauen abzeichnet. Das sind vor allem Testamente. Natürlich haben die Frauen die Testamente nicht selbst geschrieben, aber sie haben sie doch meistens formuliert oder dem Schreiber in die Feder diktiert, auch wenn sie dabei gewissen Formalia genügen mussten, ja, die einfach ein Testament mit sich bringt. Aber die Testamente sind so unterschiedlich… wenn Sie Testamente von Frauen lesen, dass Sie da unterschiedliche Handlungsräume feststellen und das Recht des 16. 17. Jahrhunderts bot ja Frauen auch genau diese Handlungsspielräume, die sich dann ja auch im Testament niederschlugen.

J. - Sie haben Fälle von Frauen erforscht, die im frühkolonialen Trujillo in Peru vor Gericht standen und öffentlich gedemütigt wurden. Warum genau ist die Studie von diesen Einzelfällen von besonderem Interesse für Ihre Forschung und beziehungsweise inwiefern lassen sich von diesen Quellen gesellschaftliche Konflikte oder Tendenzen ablesen?

K. N. - Ja, da habe ich mich sehr stark von der historischen Anthropologie oder von der Mikrogeschichte anregen lassen, also wie Carlo Ginsbruck zum Beispiel, und ich sehe diese Fälle als exemplarisch um daran etwas zu entwickeln, dass für die Kolonialzeit doch auch typisch sein kann. Denn die Kolonialzeit ist eine historische Epoche, deren Quellen es doch sehr schwer machen die Gesellschaft in dieser Zeit zu verstehen. Weil die meisten der Quellen tatsächlich die von den Institutionen produzierten sind, also auf einer sehr hohen Ebene des Kolonialstaats, des Staates selbst, beziehungsweise der Kirche. Und die darunter liegenden Ebenen, die eben an das Alltagsleben der Menschen heranreichen, dies sind sehr viel schwerer zu fassen. Da muss man ganz andere Quellengattungen suchen. In meinem Falle waren das die Notariatsbücher, also das ist ja so wie heute. Wenn man zum Notar geht hat man bestimmte Anliegen und das war eigentlich im 16. Jahrhundert nicht anders. Die Menschen gingen dahin um Verträge zu machen, um Testamente anzumelden, um Mitgiftbriefe aufzusetzen usw. Und die Menschen gingen aber dahin, ja, damit erfasst man doch die Anliegen der Menschen und das was sie bewegte. Diese Fälle, die dann auch vor Gericht landeten, das sind tatsächlich sehr sehr wenige Fälle, die ich als exemplarische Fälle nehme. Das ist immer ein sehr großer Glücksfall, wenn man so etwas tatsächlich findet, also in diesem einen Fall soll eine Hebamme angeklagt werden, weil sie eben Hexerei und Zuhälterei betreiben würde. Und Hexerei und Zuhälterei, das ist die Celestina. Also dieses berühmte Werk aus Spanien, dieses Drama und Komödie in einem. Und dann entsteht natürlich die Frage: Was macht denn das Werk in Spanischamerika? Wie kommt es dahin und warum ist es so wichtig, dass es aufgegriffen wird um daran die aktuellen sozialen aber auch identitären Konflikte auszuhandeln.

J. - Sie sprachen gerade von der Celestina. Welche sexuellen Rechte und Freiheiten hatten denn Frauen im frühkolonialen Lateinamerika?

K. N. - Ja, die Frage habe ich ehrlich gesagt nicht ganz verstanden. Inwiefern… welche sexuelle Freiheiten, meinen Sie in Bezug auf Heirat, Heiratsregeln, oder…?

J. - Genau. Wir hatten uns das am Beispiel der, dieses Consillo de Trento nochmal angeschaut und eben genau diesen Fall mit dem Vorwurf der Zuhälterei und Kupplerei glaub ich hatten wir das übersetzt…

K. N. - Ja, kann man auch so sage

J. - Genau. Inwieweit kann man sagen, dass zum Beispiel die Frauen damals mehr Rechte hatten sich ihre Partner auszusuchen oder eben auch dieses Wissen der Hebamme zu reproduzieren…

K. N. - Ja, das hatten sie auf alle Fälle mehr als zu dem Zeitpunkt als die realen Pragmatiker dann in Kraft trat, im Zusammenhang mit den bourbonischen Reformen im 18.Jahrhundert. Das ist wirklich erstaunlich, dass Frauen und Männer doch einander frei wählen konnten, ohne dass der Vater, also der patriarchalistische Macht da so viel mitzusprechen gehabt hätte. Das setzte aber später ein und das war auch ein Moment wo die Kirche sehr viel mehr zu sagen hatte als vorher im 16. Und 17. Jahrhundert. Und auch der Fall der Hebamme, der Celestina aus Trujillo ist eben interessant, weil der Fall ja gar nicht vor einem Kirchengericht verhandelt wurde, also wie Hexerei und Kupplerei, sondern das war ein ziviles Gericht, ja, das ging vor die Real Audiencia, also nach Lima, vor den Gerichtshof und dort sollte des verhandelt werden-wenn es überhaupt verhandelt wurde. Das brach ja vorher schon ab das Dokument, das hat man ja häufiger, dass man das Ende dann nie erfährt der Geschichte… Also insofern würde ich sagen, also einmal dadurch, dass der Vater nicht so viel Macht hatte über die Partnerwahl sowohl der Frauen als auch der Männer und durch die Regelung des Eigentumrechts hatten die Frauen schon sehr viel Handlungsspielraum und größere Freiheiten als es ab dem Ende des 18.Jahrhunderts war und auch als es nach der Unabhängigkeit war.

 

J. - Sie kritisieren Darstellungen, die von gegebenen Kontinuitäten zwischen vorspanischem und frühkolonialem Recht ausgehen. Inwiefern ermöglicht es Ihre Arbeitsweise, insbesondere Ihr methodischer Ansatz, diese Ideen aufzubrechen?

K. N. - Also das Thema der Kontinuitäten ist ein ganz wichtiges Thema in meiner Arbeit und da ich ja mit diesem Ansatz der langhistorischen Dauer oder Longue Durée von Fernand Braudel arbeite, ist das natürlich immer die Frage: Was sind Kontinuitäten, wie sind sie zu begreifen, bis wohin gehen sie und in welchem Moment gibt es Brüche und warum gibt es Brüche?

… also der Geschlechterparallelität und Geschlechterkomplementarität. Das sind übrigens zwei Konzepte über die haben wir ja noch gar nicht gesprochen, die man auf alle Fälle im Kontext von ethnischer Identität nennen müsste und besprechen müsste. Das ist etwas, was meiner Meinung nach auch sehr stark die Vorstellung von Geschlechterverhältnissen in der vorspanischen Zeit der Amerikas prägt, ohne dass wir genau wissen was eigentlich damit gemeint ist. Wenn Sie sich Studien anschauen, wo über vorspanische Geschlechterverhältnisse geredet wird, dann stoßen Sie immer auf Geschlechterparallelität und Geschlechterkomplementarität und Sie stoßen immer wieder auf die gleichen, auf die gleiche Autorin – es ist eigentlich nur eine die da zitiert wird- und das macht doch das Bild relativ eng…Ich denke, dass ist auch sehr stark eine politische Auseinandersetzung gewesen, auch in den USA, das ist eine US-amerikanische Anthropologin, die darüber sehr viel gearbeitet hat, die dazu geführt hat. Und seitdem ist das Bild relativ starr, also da sollten wir, wenn wir jetzt mit ethnischer und Geschlechteridentität arbeiten auch überlegen, wie können wir denn diese Konzepte, die durch die Forschung reingebracht worden sind, aufbrechen und flexibler machen oder mit mehr Leben füllen.

J. - Sie haben gerade schon das Beispiel von Evo Morales genannt. Welche Relevanz hat die Geschlechtergeschichte für das Verständnis der heutigen lateinamerikanischen Gesellschaft oder der Gesellschaften?

K. N. - Ja, eine sehr große. Also immer wenn wir Geschlechtergeschichte im Intersektionalitätsansatz, also mit allen anderen Kategorien verstehen. Evo Morales arbeitet ja auch sehr stark mit dem Konzept des Patriarchialen, des Patriarchalismus und der Patriarchalisierung und der Depatriarchalisierung. Da steckt natürlich auch eine Vorstellung von Gender sehr stark mit drin. Diese Kategorie Patriarchalisierung oder ja das Patriarchats ist eine schwierige Kategorie, weil sie eigentlich auch eine politische Kategorie ist, aber immer als historische Kategorie genutzt wird. Auch bei Evo Morales und bei vielen anderen. Und es gibt sehr viel Mythen, die sich um diese Kategorie ranken, genauso wie um die andere Kategorie, die dazu gehört, das Matriarchat. Also vom Matriarchat spricht ja heute kaum noch jemand, also da ist eigentlich offensichtlich, dass es sich um ein Mythos handelt. Es gibt ja auch dieses schöne Buch von Uwe Wesel, der auch mal Professor hier war als Jurist, als Rechtshistoriker, „Der Mythos vom Matriarchat“. Und beim Patriarchat ist es aber anders, da ist der Mythos noch nicht so herausgearbeitet worden, aber mit dem Begriff wird sehr stark politisch gearbeitet und ich denke Geschlechterstudien sollten sich mal dieses Begriffs annehmen und den auch einmal dekonstruieren. Das wäre ganz wichtig, sowohl für die Wissenschaft, als auch für die Politik, als auch für die feministischen Bewegungen in Bolivien und anderen lateinamerikanischen Ländern.

J. - Anfänglich gab es ja nur wenige GenderforscherInnen in Ihrem Fachgebiet. Wie schätzen Sie die Entwicklung und den heutigen Stand der Genderforschung in den Lateinamerikastudien in Deutschland ein?

K. N. - Ich denke das ist leider wieder zurückgegangen. Es gibt…. das Lateinamerikainstitut ist natürlich ein ganz wichtiger Fokus, ein ganz wichtiges Zentrum…