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Befreiungstheologie

In den Sechzigerjahren entstand in Lateinamerika eine besondere soziale und intellektuelle Bewegung, die auch auf andere Teile der Welt übergreifen sollte: eine Befreiungsbewegung, die ihren Ursprung im christlichen Glauben hat. Die „Theologie der Befreiung“ entstand in Lateinamerika zunächst aus der Selbstorganisation von Basisgemeinden. Dabei werden die Botschaften der Bibel auf die eigene Lebenswirklichkeit übertragen und die Vision einer urchristlichen, sozialistischen Gemeinschaft und Gesellschaftsordnung im Interesse der Armen entworfen. Seit Beginn der Sechzigerjahre bildeten sich die sogenannten Basisgemeinden, deren Mitglieder meist Campesinos, Slumbewohner oder Analphabeten waren. Ausgehend von den gemeinsamen Alltagsproblemen las und interpretierte man zusammen die Bibel, die als Grundlage einer neuen politischen Mobilisierung diente. Im Zentrum der Befreiungstheologie stand zudem die Kritik am Missbrauch der Religion und der traditionellen Nähe des Klerus zur Macht („Thron und Altar“). Einen Höhepunkt fand die befreiungstheologische Mobilisierung auf der zweiten Lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM), die vom 26. August bis 6. September 1968 in der kolumbianischen Stadt Medellín stattfand. Das eigentliche Ziel der Konferenz war es, dem Prestige- und Machtverlust des kolonialen Klerus auf dem Kontinent Einhalt zu gebieten. Doch auf der Tagesordnung standen auch die neuen sozialen und religiösen Bewegungen, die – im Stile des Guerilla-Priesters Camilo Torres – die Ansicht vertraten, dass die Revolution für wahre Christen ein Gebot sei und die extreme Ungleichheit zwischen Arm und Reich verurteilten. Camilo Torres vereinigte beide Ansätze, Befreiungskampf und -theologie, in einer Person: Der 1929 geborene Kolumbianer trat 1954 das Priesteramt an und reiste zunächst nach Belgien, um an der katholischen Universität Leuven zu studieren. Als er wieder nach Kolumbien zurückkehrte, arbeitete er als Studentenpfarrer und Dozent für Soziologie. Dabei setzte er sich stets für die Zusammenarbeit zwischen Christen und Marxisten ein. Schließlich schloss er sich der Befreiungsarmee ELN (Ejército de Liberación Nacional) an und wurde 1966 bei seinem ersten Gefecht mit der kolumbianischen Armee getötet. Der Befreiungsansatz entwickelte sich noch in weitere Richtungen. Neben der Theologie entstand sowohl eine Pädagogik als auch eine Philosophie der Befreiung. Bei der Befreiungspädagogik, als deren Gründer der Brasilianer Paulo Freire mit seiner "Pädagogik der Unterdrückten" gilt, wird davon ausgegangen, dass Befreiung von Herrschaft durch Bildung möglich ist. Freire entwickelte auch für die UNESCO Methoden der Alphabetisierungsarbeit.

Henriette Friede