Springe direkt zu Inhalt

Der "Cordobazo"

Mai 1969 sind als das „argentinische 1968” in die Annalen eingegangen. Fast fünfzehn Jahre nach dem Putsch gegen Juan Domingo Perón und im dritten Jahr der Diktatur unter General Juan Carlos Onganía wurde das Klima bei Arbeitern und Studierenden im Frühjahr 1969 explosiv, die Universitäten waren politisiert. Hinzu kamen Lohnkürzungen und die gerade erst beschlossene Abschaffung des arbeitsfreien Samstags („sábado ingles”). Die lokalen Gewerkschaften galten aufgrund ihrer organisatorischen und finanziellen Autonomie als besonders „antibürokratisch” und militant. Im Stadtzentrum war es schon seit Mitte Mai zu Tumulten gekommen. Ein Grund dafür war die Ermordung von vier Studenten und Arbeitern in den entfernten Provinzen Corrientes, Rosario und Tucumán.

Am 26. Mai organisieren verschiedene Arbeiterführer, darunter Agustín Tosco vom Gewerkschaftsdachverband Confederación General del Trabajo de los Argentinos (CGT), verschiedene Versammlungen in der Stadt. Dabei gelingt es ihnen, Kontakt zwischen den lokalen Gewerkschaften, Studentengruppen sowie der katholischen Bewegung der Priester der Dritten Welt herzustellen – eine bis dahin ungewöhnliche Allianz. Sie rufen für den 29. Mai um 11.00 Uhr den „aktiven Streik” („paro activo”) aus. Am Vormittag des 29. Mai ist die Situation in der altehrwürdigen Universitätsstadt angespannt. Die Polizei positioniert sich im Stadtzentrum, die Straßen werden abgesperrt. Gegen 11.00 Uhr verlassen viele der Arbeiter ihre Arbeitsplätze und setzen sich Richtung Stadtzentrum in Bewegung. Studierende halten Versammlungen auf der Straße ab und schließen sich spontan dem Zug an. „Das war eine kollektive Entscheidung”, erinnert sich ein Arbeiter einer Autofabrik in einem Interview mit der Zeitschrift Umbrales, dreißig Jahre nach den

Vorfällen.

„Ich weiß gar nicht mehr, wie es dazu gekommen ist. Niemand hat den Befehl oder irgend so etwas gegeben, aber wir sind alle gegen die Polizei vorgerückt. Ich hatte verfaulte Mandarinen in der Hand, ich hatte gar nichts, womit ich mich hätte verteidigen können. Aber wir sind einfach immer weiter gegangen...

Die Polizei will den Zug in das Stadtzentrum aufhalten und setzt Tränengas ein, kurz darauf wird scharf geschossen. Über Seitenstraßen gelangen die Arbeiter schließlich doch ins Zentrum. Gegen das Tränengas werden Feuer auf den Straßen entzündet, die Luft ist voller Rauch. Die Polizei geht in so genannten Blitzeinsätzen („actos relámpagos”) gegen die Protestierer vor, es fallen immer mehr Schüsse. Eine Gruppe von Automechanikern leistet Widerstand mit dem, was sie zur Hand haben, Steinen und Eisenteilen. Molotowcocktails werden gebaut, Autos gehen in Flammen auf. Fensterscheiben klirren. Busse, Geschäfte und Büros werden angezündet.

In den Morgenstunden des 30. Mai ist Córdoba kurzzeitig eine eroberte Stadt, die Polizeikräfte sind besiegt. Die Regierung beschließt, die Stadt zurückzuerobern und die Armee gegen die Protestierer einzusetzen. Die offiziellen Angaben über die Opfer schwanken: zwischen 14 und 34 Toten, 200 bis 400 Verletzte und etwa zweitausend Verhaftete. 34 Demonstranten, darunter auch „El Gringo” Tosco, werden von einem Kriegsgericht zu Strafen von drei Monaten bis zu acht Jahren verurteilt.

Der Cordobazo hat sich als kurzer, aber symbolisch bedeutender Moment der erfolgreichen Gegenwehr in die argentinische Geschichte eingeschrieben: Der Provinz-Gouverneur musste zurücktreten, kurze Zeit später räumte auch die Regierung Onganía das Feld. „Das Ziel war nicht, Córdoba in Flammen aufgehen zu lassen”, erinnert der Gewerkschafter Felipe Alberti. „Es ging um legitime Selbstverteidigung für die Rechte der Arbeiter und die Freiheit der gesamten Gesellschaft.”

Luis, ein ehemaliger Studentenführer, beschreibt den Mythos: „Der Cordobazo wurde zu einem romantischen Bild, das bei allen weiteren Vorfällen präsent war, und begründete eine sehr mächtige Mystik. Da ist diese romantische Idee des Klassenbewusstseins. Im individuellen Bewusstsein von allen, die wir damals dabei waren, setzt sich etwas fest: das ist genau das, was die Menschen wollen. Und der Cordobazo beschleunigt das alles, man hatte keine Zeit zu verlieren und dabei stürzt man sich voll hinein in Aktionen, bei denen man alles riskiert. Nicht nur für jeden persönlich, sondern auch als Organisation. Es gibt diese Dringlichkeit, diese Überstürzung...

Inga Kleinecke