Befreite Sexualität - befreite Frauen? - Die Pille in Lateinamerika
Bereits 1919 wurde beobachtet, dass bestimmte Stoffe bei einer Schwangerschaft das Heranreifen von anderen Eizellen stoppen. Doch konnte man Östrogen erst Ende der Dreißigerjahre erstmals Östrogen synthetisch herstellen. Als man in den Fünfzigerjahren die richtige Zusammenstellung von Hormonen fand und die Pille in den USA marktreif gemacht wurde, ging es hauptsächlich darum, die Vermehrung der Armen in Lateinamerika einzudämmen. Man hatte Sorge, deren Nachwuchs könnte dem Kommunismus anheim fallen oder in Massen in den reichen Norden emigrieren. Das Medikament „Enovid” wurde in Puerto Rico an einheimischen Frauen getestet. Die erste Antibabypille kam 1960 auf den US-Markt und fand ab Mitte der Sechzigerjahre Verbreitung in vielen lateinamerikanischen Ländern. Dort kollidierte sie erwartungsgemäß mit den Moralvorstellungen vieler Religionsgemeinschaften, insbesondere der katholischen Kirche. Im August 1968 traf der Papst in Kolumbien zur Lateinamerikanischen Bischofskonferenz ein, einen Monat nach der Veröffentlichung seines Lehrschreibens „Humana Vitae”, in dem er jegliche Form der künstlichen Verhütung verbot. Aus Protest kursierten in der kolumbianischen Hauptstadt Plaketten mit dem päpstlichen Wappen und der Inschrift „Papa no – Pepa sí” (Papst nein - Pille ja).
Wie Reporter des SPIEGEL damals berichteten, hätte man die Pille in jeder Apotheke von Bogotá ohne Rezept kaufen können. Allerdings hätte kaum jemand gewusst, dass es die Pille überhaupt gab. Doch nicht nur mit dem Klerus kollidierte das neue Wundermittel. Auch Befreiungstheologen und Revolutionäre taten sich schwer mit der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen, den neuen Formen der Empfängnisverhütung und erst recht dem Recht auf Abtreibung. All dies wurde nicht selten als imperialistische Erfindung gegen den revolutionären Nachwuchs bezeichnet. „A parir, madres latinoamericanas, a parir guerilleros...” („Auf zum Gebären, lateinamerikanische Mütter, auf dass ihr Guerilleros gebärt...”) lautete ein beliebter Slogan dieser Zeit. In den neu erwachenden Frauenbewegungen der Siebzigerjahre wurde die Pille, ähnlich wie in Europa und den USA, dann zunehmend kritischer gesehen.
Susanne Awiszus / Anne Huffschmid