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Argentinien: Tucumán Arde - Tucumán brennt

Unter diesem Titel fand Ende 1968 sowohl in der argentinischen Provinzhauptstadt Rosario als auch in Buenos Aires eine Ausstellung statt. Aber hinter dem Namen verbirgt sich weitaus mehr: „Tucumán brennt kann als Metapher verstanden werden für ein künstlerisches Aufbegehren gegen die Militärdiktatur, weg von überholten Konventionen hin zu einer neuen Ästhetik. So bildeten sich unabhängig voneinander Mitte der Sechzigerjahre neue Künstlergruppen in Buenos Aires und in Rosario (Grupo de arte de vanguardia). Letztere verkündete sogar in einer Art Manifest (A propósito de la Cultura Mermelada) ihre Abscheu vor der etablierten Kunstszene, der „Marmeladen-Kultur“, und dem kulturellen Mainstream. Gemeinsam veranstaltete man Protestaktionen, etwa im Oktober 1966 die „Anti-Biennale“ in Córdoba als Gegenveranstaltung zu der von der Industrie gesponserten 3. Amerikanischen Kunstbiennale. Neben experimentellen Kunstaktionen und politischen Statements zeugte auch der Bruch mit dem renommierten Kulturinstitut Di Tella von der Radikalisierung einer ganzen Künstlergeneration – diese wurde unter dem Label Itinerario del ’68 (Route von ’68) bekannt und fand ihren Höhepunkt in der Ausstellung „Tucumán arde“. Das Projekt war der Versuch, eine Synthese zwischen Kunst und Politik herzustellen: Politische Gewalt wurde zum Gegenstand künstlerischer Praxis und diese wiederum eine Form der politischen Aktion.

Im August 1968 trafen sich diverse KünstlerInnen in Rosario und debattierten ihre Ansichten zum Marxismus und zur kubanischen Revolution, zur aktuellen Lage in Argentinien und erörterten Handlungsoptionen. Es ging ihnen um die Verantwortung von Künstlern als Mitgestalter einer gesellschaftlichen Entwicklung, die mit ihrer Kunst nicht nur einen kleinen bourgeoisen Elitezirkel sondern breitere Kreise der Bevölkerung ansprechen wollen. Die Provinz Tucumán im Nordosten Argentiniens, offiziell als „Garten der Republik“ tituliert, ist bekannt für den Anbau und die Verarbeitung von Zuckerrohr. Aufgrund der Überproduktion veranlasste die Militärregierung die Schließung von einem Drittel der Zuckermühlen und propagierte dies als „Modernisierung“. Die Verelendung der Lebensverhältnisse in der Zuckerprovinz wurde damals breit in den Medien debattiert. So wollte das Künstlerkollektiv diesen „Garten des Elends“ näher untersuchen: Während zweier Aufenthalte sammelten die Künstler Wirtschaftsdaten, Dokumente, Interviews und Bilder. Aus diesem Material wurden die beiden Ausstellungen produziert, die über die dramatische Situation in Tucumán aufklären sollten. Zuerst, am 3. November, in der Provinzhauptstadt Rosario, drei Wochen später dann in Buenos Aires – wo sie nach wenigen Stunden von der Polizei geschlossen wurde.

Christian Tinz