Forschen in Zeiten von Corona
Ein Bericht von Judith von Plato (Mai 2020)
März 2020
Eigentlich wollte ich an dieser Stelle von den ersten Eindrücken meines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts in Mexiko berichten. Thema meiner ethnographischen Forschung sollten deutsche Anwerbeinitiativen von Pflegekräften aus Mexiko sein.
Doch jetzt ist alles anders. Jetzt sitze ich nicht in México D.F. an einem Schreibtisch mit einem Café de Olla, höre im Hintergrund die Geräusche der lauten Straßen, die Rufe vorbeiziehender verkaufender Menschen und versuche mich trotz der Wärme auf das Schreiben dieses Textes zu konzentrieren. Nein, ich sitze an meinem Schreibtisch in Berlin. Eine Decke um meine Beine geschlungen, der Penny-Café dampft vor mir. Und draußen ist es ruhig. Es dringen weder Geräusche von der Straße zu mir noch von der Schule gegenüber. Die Schule ist geschlossen. Einzig und allein höre ich unsere Waschmaschine und dumpfe Schritte der tobenden Nachbarskinder über mir. Dem Kurzschluss meines Gehirns im Angesicht der ausgestorbenen Straßen und den geschlossenen Geschäften, es sei Sonntag, kann ich schon lange nicht mehr trauen. Es ist ein ewiger Sonntag. Ein Sonntag, der sich nun zumindest seit mehreren Wochen hinzieht und vermutlich noch weitere Wochen anhalten wird. Wie lang genau, weiß niemand. Es ist Corona-Zeit.
Statt also von meinen ersten Schritten in der Umsetzung der Feldforschung in Mexiko zu berichten, werde ich in diesem Text reflektieren, inwiefern die Ausbreitung vom Corona-Virus, oder genauer von SARS-CoV-2, und die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus meinen Forschungsprozess beeinflussen. In einem nächsten Schritt werde ich Ideen erörtern zum „produktiven“ Umgang mit diesen Veränderungen, sodass mein Forschungsvorhaben sich nicht schlicht in den engen Weiten der neuen virtuellen Homeoffice-Welt in Luft auflöst. Zunächst aber werde ich der Vollständigkeit halber ein paar Hintergrundinformationen zur jetzigen Situation liefern – auch wenn wir alle momentan betroffen sind und sie den meisten geläufig sein werden.
Hintergrundinformationen
SARS-CoV-2 gehört zu der weit verbreiteten Familie der Corona-Viren und wurde in dieser neuen Form erstmalig im Dezember 2019 in Wuhan bei einem Menschen nachgewiesen. Mittlerweile hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem Virus und der daraus resultierenden Lungenkrankheit „Covid-19“, den Status einer Pandemie, d.h. einer weltweiten Ausbreitung, verliehen. Die Mehrheit der Staaten auf der ganzen Welt haben Maßnahmen zur Eindämmung erlassen. In Deutschland liegt das öffentliche Leben still: es gelten Vorgaben zu Kontaktbeschränkungen und in Berlin dürfen Bewohner*innen das Haus nur „mit einem triftigen Grund“ verlassen. Bildungseinrichtungen und Kulturinstitutionen bleiben geschlossen; Geschäfte, die nicht zur alltäglichen Grundversorgungen dienen, haben Verkaufsverbot, ebenfalls die meisten Restaurants, Café, Bars und Clubs. Bestimmte Berufe, die als „systemrelevant“ eingestuft werden, dürfen, ja müssen, weiter ausgeführt werden, während ein großer Teil der Menschen im „Homeoffice“ sitzt. Wir alle sind betroffen. Einige mehr, andere weniger. Eine derartige Krise trifft insbesondere Personen, die zurzeit nicht das Privileg eines Zuhauses genießen oder deren Zuhause kein sicherer Ort darstellt, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben, die ein bereits niedriges oder ungesichertes Einkommen beziehen oder die nicht Teil der imaginierten Gemeinschaft sind, die es solidarisch zu unterstützen gilt, wie z.B. Personen außerhalb nationalstaatlicher und europäischer Grenzen.
Ich bin in einer privilegierten Situation: meine Existenz ist nicht gefährdet. Meinen Job in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen darf ich weiter ausführen. Wenn es also vergleichsweise nur eine kleine Sorge ist, so ist doch mein geplantes Forschungsprojekt hinfällig: das Auswärtige Amt hat eine weltweite Reisewarnung erlassen und die Freie Universität zu Berlin hat die Genehmigung aller Auslandsaufenthalte und Forschungsreisen bis einschließlich zum 20. Juli zurückgezogen. Mein Flug wurde annulliert, das Forschungsgeld zurückgefordert und ich befinde mich weitestgehend in „kontaktbeschränkter“ Isolation.
Auswirkungen auf meine Planung
Was nun? Die grundlegende Frage, die sich mir stellt, ist folgende: muss ich das Projekt als begraben hinnehmen oder verzögert es sich lediglich? Die Antwort darauf allerdings liegt außerhalb meiner Entscheidungsmacht. Es ist vollkommen unklar, wie sich die Verbreitung des Virus in Zukunft gestalten wird und wie politische Entscheidungsträger*innen mit der Situation umgehen werden. Sicher ist, dass sich der Forschungsaufenthalt bis frühestens Ende Juli nicht realisieren lässt. Inwiefern ein Aufenthalt in Mexiko danach Sinn ergibt, ist die nächste offene Frage: Wie wird die Situation in Mexiko bis dahin aussehen? Momentan gibt es zwar deutlich weniger positiv Getestete als in Deutschland, doch kann dies lediglich an einer zeitlichen Verschiebung liegen und an der geringeren Anzahl der Tests, die durchgeführt werden. Weniger Tests bedeutet in der Konsequenz weniger als infiziert Geltende in den offiziellen Zählungen. Auch in Mexiko ist das öffentliche Leben stark beeinflusst. Schulen, Universitäten und Kulturstätten sind geschlossen. Mexikanische wie deutsche Medien beschäftigen sich zu einem auffälligen Anteil mit dem Virus. Inwiefern das Corona-Virus sich auch auf das Projekt des Gesundheitsministeriums, das ich zu untersuchen plante, auswirkt, scheint mir eine weitere bedeutsame Frage für mein Vorgehen. Wollen und dürfen Pflegekräfte weiterhin ausreisen? Wie wirkt sich das Bild des durchseuchten Europas auf Einzelpersonen aus, die interessiert waren oder sich bereits in der Vorbereitungszeit zur Ausreise befinden? Wird die mexikanische Regierung weiterhin Pflegekräfte ausreisen lassen, die möglicherweise bei einer Überlastung des Gesundheitswesens durch eine akute Welle des Virus vor Ort gebraucht würden? Werden Informationsveranstaltungen zur Anwerbung in Mexiko im Sommer wieder stattfinden, wo ich vorhatte, Kontakt zu teilnehmenden Pflegekräften zu knüpfen? Haben examinierte Krankenpfleger*innen in diesen Zeiten überhaupt genug Zeit- und Energie-Ressourcen, um an einem Forschungsprojekt teilzunehmen? Inwiefern wird mir der Zugang zum Gesundheitssystem und Pflegenden in Mexiko (als westlich gelesene Forscherin) in Corona-Zeiten erschwert?
Die Antworten auf diese Fragen bleiben zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt, doch schwant mir, dass ich – um den Abschluss meines Studiums nicht zu gefährden – eher damit rechnen sollte, dass die Umsetzung der Forschung nach dem 20. Juli nicht umgehend wieder möglich sein wird.
Alternativplan
Es musste also ein Plan B her. Da ich mich thematisch nicht umorientieren wollte, beschloss ich den Schwerpunkt zu verschieben: auf die Erfahrungen und Perspektiven derjenigen Pflegerinnen und Pfleger, die bereits im Rahmen von Anwerbeinitiativen in Deutschland tätig sind. Dieser abgeänderte Fokus erlaubt es mir, mich thematisch weiterhin auf die Anwerbung von Pflegekräften zu konzentrieren und auf die Perspektiven der Pflegenden selbst, ohne dass ein Forschungsaufenthalt in Mexiko notwendige Bedingung ist. Dies bedeutet zwar, dass ich mich nicht auf das jüngste „Rekrutierungsprojekt“ des Bundesgesundheitsministeriums konzentrieren kann, wie ich ursprünglich geplant hatte. Das Projekt wurde erst kürzlich ins Leben gerufen, sodass sich Teilnehmende zum momentanen Zeitpunkt noch in der Vorbereitungsphase in Mexiko befinden. Stattdessen musste ich meinen Fokus erweitern auf Personen, die in Projekten der zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit nach Deutschland gekommen sind oder in Folge direkter Bemühungen von einzelnen Krankenhäusern, wie z.B. der Charité. Um Zugang zum „Feld zu bekommen, entschied ich, Arbeitgeber*innen und Institutionen anzuschreiben, die in den Anwerbungsprozess involviert sind, wie die ZAV, das Gesundheitsministerium und Deutsche Fachkräfteagentur (DeFa Agentur). Über diese erhoffte ich mir neben Informationen über das institutionelle Gefüge, Kontakt zu Pflegekräften knüpfen zu können. Auch Facebook-Gruppen, wie „Enfermeros Mexicanos en Alemania“, erschienen mir eine vielversprechende Möglichkeit, Interviewpartner*innen zu gewinnen.
Inzwischen konnte ich 17 Interviews führen sowohl mit Vertretern der ZAV und der DeFa Agentur als auch mit Pflegenden, die 2018 und 2019 in Programmen der Charité und zwei Pflegeeinrichtungen für Senior*innen nach Deutschland kamen. Entgegen meiner Sorge, dass viele Pflegekräfte in derart angespannten Zeiten weniger bereit seien, an einer Forschung teilzunehmen, gestaltete sich die Suche nach Interviewpartner*innen bisher auffallend einfach. Aus den bisherigen Interviews scheint mir, dass der Redebedarf und der Wunsch nach Veränderung der Anwerbeprozesse derart groß sind, dass eine Vielzahl an Personen ihre Erfahrungen teilen möchten.
Mein Masterarbeitsprojekt ist wohl eines der aktuell vielen Beispiele dafür, wie schnell eine Planung umgeworfen werden kann. Wenn ich mir erlaube für einen Augenblick ganz egoistisch darüber nachzudenken, ist die Absage der Feldforschung eine schmerzliche Erfahrung. Doch bleibt mir – wie allen anderen – nichts Anderes übrig, als Möglichkeiten des Umgangs zu finden. Natürlich muss ich mich fragen, welche Informationen bei Begegnungen im virtuellen Raum ggf. verloren gehen und inwieweit die physische Kopräsenz für den Erkenntnisgewinn notwendig ist. Gleichzeitig zeichnen sich auch Vorteile ab – wie banal und unbedeutend sie auch sein mögen. So gestalten sich die Interviews besonders offen und locker, was u.a. damit zu tun haben könnte, dass die Personen sie von Zuhause aus führen. Möglicherweise liegt es daran, dass das heimelige Umfeld gleich eine sichere, vertraute Atmosphäre schafft. Vielleicht aber liegt es auch an einem Gefühl des Ausnahmezustandes, in dessen Zuge Konventionen zumindest teilweise modifiziert oder gar revidiert werden. Es bleibt in jedem Fall abzuwarten, welche unerwarteten positiven Effekte sich eventuell herausstellen, wenn wir sie als solche erkennen.
Zur Autorin: Judith von Plato studierte Psychologie und Regionalstudien im Bachelor. Derzeit ist sie Studentin des Masterstudiengangs „Interdisziplinäre Lateinamerikastudien“.