Anthropologie der Emotionen
Die Anthropologie der Emotionen wendet sich den Gefühlen in ihren kulturellen und sozialen Dimensionen zu, seitdem sie erkannt hat, wie sehr sich je nach Gesellschaft die sozialen Regeln unterscheiden können, welche Gefühle Menschen wann zeigen dürfen oder verbergen müssen.
Der Fotograf Abraham Gómez aus San Juan Chamula (Chiapas, Mexiko) zeigt beispielsweise durch seine Portraits von Pärchen, dass es sogar innerhalb einer Gemeinde unterschiedliche Auffassungen darüber geben kann, ob und wie Liebe und Zuneigung öffentlich präsentiert werden dürfen.
Seit Mitte der 1980er Jahren forschen Kultur- und Sozialanthropolog_innen darüber, wie Emotionen von außen und durch kulturelle Kontexte entstehen und geprägt werden. Insbesondere Michele Rosaldos (1984) „Toward an Anthropology of Self and Feeling“ sowie Catherine Lutz und Lila Abu-Lughods (1990) „Language and Politics of Emotion“ waren wegweisende Publikationen. In ihrer Monografie „Unnatural Emotions“ (1988) lieferte Catherine Lutz anhand ihrer qualitativen ethnologischen Forschung erstmals überzeugende Argumente dafür, dass Emotionen kulturelle Konzepte sind und nicht auf universale und rein biochemische Prozesse reduziert werden können. Emotionen wurden damals noch nicht als ein relevantes kulturanthropologisches und sozialwissenschaftliches Forschungsfeld betrachtet, denn sie galten als sehr ‚innerlich’ und damit als ein problematischer Forschungsgegenstand, der eher der Neurowissenschaft überlassen wurde. Etymologisch weist das Wort Emotion auf dieses Konzept von Emotionen als etwas, was aus dem Innersten des Menschen herauskommt. Es leitet sich vom Lateinischen emovere (dt. herausbewegen, emporwühlen) ab.
Die Kultur- und Sozialanthropologie fragt nicht unbedingt danach, was eine Emotion genau ist, sondern was sie mit uns macht und welche Rolle Emotionen im sozialen Zusammenleben spielen. Die Anthropologie der Emotionen kontextualisiert, welche kulturellen Bedeutungen mit einer Emotion verbunden sind und wie sie in gesellschaftlichen Prozessen intervenieren und zirkulieren. Ihre Forschungen zeigen, wie zentral Emotionen in vielen soziokulturellen Bereichen sind. Sowohl auf Mikroebenen als auch in breiteren gesellschaftlichen Kontexten wie nationalen oder internationalen politischen Prozessen stellen Emotionen oft entscheidende Komponenten dar. Im DFG-Teilprojekt „Die affektive Produktion von ‚Heimat‘: Patronatsfestvideos im transnationalen Kontext Mexiko/USA“ unter der Leitung von Ingrid Kummels wird als Teil des SFB 1171 „Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ erforscht, wie affektive Beziehungen im Kontext von Migration (Mexiko/USA) durch Medienpraktiken und in Medienräumen verhandelt werden. Die räumliche Trennung und das restriktive Grenzregime erschweren es den Angehörigen der transnationalen Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze, emotionale Bindungen zueinander aufrecht zu erhalten. Durch Medienproduktionen, wie zum Beispiel Patronatsfestvideos, die transnational zirkulieren, können affektive Beziehungen jedoch etabliert und verhandelt werden.