Wandmalereien von Diego Rivera
Zu den berühmtesten Werken des muralismo zählen die Malereien auf den Wänden des Palacio Nacional in Mexiko Stadt. Diese wurden von dem mexikanischen Künstler Diego Rivera, Ehemann der Malerin Frida Kahlo, von 1929-45 an den Palastinnenwänden aufgemalt. Sie zeigen Riveras Version der mexikanischen Geschichte, von der vorspanischen Zeit, über die spanische Eroberung Mexikos, die Kolonialzeit, die Zeit der Unabhängigkeit bis hin zur Mexikanischen Revolution.
Der Bilderzyklus beginnt mit einem Wandgemälde, mit Riveras Repräsentation des Alten Mexiko. Die Zentralfigur bildet der legendäre Priestergott Quetzalcoatl, der wie in vorspanischer Zeit auch auf dem Wandgemälde als Symbol für ein Goldenes Zeitalter, ein Utopia, steht, wo alle Menschen gleich waren und es keine Konflikte gab. Der hellhäutige, bärtige Gott sitzt unter einem Tempel, den eine Sonne mit umgedrehtem Gesicht bescheint und die so die Zerstörung der indigenen Welt ankündigt. Im oberen Bereich des Bildes erkennt der Betrachter den Aufbruch des friedliebenden Gottes auf einer Barke, der nach einem Verrat sein Volk verlassen musste und sich schließlich in den Stern Venus verwandelte. Die Szene soll gleichzeitig an seine mythologische Prophezeiung erinnern, eines Tages zurückkehren zu wollen, um der Menschheit Errettung und Wohlstand zu bringen. So zerstörte der Fall Quetzalcoatls die ursprüngliche Ordnung, und soziale Ungerechtigkeit kam auf, was den Übergang von der Mythologie zur Geschichte markiert. Mit diesem Bruch begannen in den Augen Riveras die Unterdrückung des indigenen Volkes und der Widerstand gegen die Machthaber.
Der Repräsentation der vorspanischen Welt folgt die der Herausbildung der mexikanischen Nation, angefangen mit der spanischen Eroberung, dem Widerstand der Indigenen gegen die Missstände in der Kolonialzeit, bis hin zu den Kämpfen der mexikanischen Revolution. Illustriert werden die Etappen der Geschichte anhand ihrer Protagonisten. Durch die Visualisierung ihrer Charakterzüge stellt der Maler Gut und Böse gegeneinander, wie es etwa bei der Darstellung des spanischen Eroberers Hernán Cortéz deutlich wird, den Rivera fast schon monströs deformiert. Hier wechselt der Maler vom historischen Porträt zur Karikatur, wodurch seine Malereien eindeutig eine politische Dimension erhalten. Die Gegenüberstellung der Personen zieht sich durch den gesamten Bildzyklus. Die imperialen Vertreter wie Vizekönig, Erzbischof und die Kirche, repräsentiert durch das Inquisitionsgericht, stellen dabei die unterdrückenden Kräfte der Kolonialzeit dar.
Auch einzelne Personen stechen in ihrer Darstellung negativ hervor, wie z.B. der Konquistador Pedro de Alvarado, der im Bild auf grausame Weise Indigene mit Eisen brandmarkt, oder der Mönch, der, wie einst Bischof Diego de Landa, Bücher verbrennt und so die Erinnerung an die indigene Vergangenheit zerstört. Als prominenten indigenen Repräsentanten bildete Rivera den letzten Aztekenherrscher Cuauhtémoc ab, der unter der fallenden Standarte des Adlers, Symbol für das besiegte Aztekenreich, kämpft.
Nachfolgend sieht der Betrachter die Kolonialzeit mit der Zerstörung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán und der Taufe der Indigenen, wobei der Dominikanermönch Bartolomé de las Casas positiv hervorsticht. Hernán Cortéz wird hier abermals abgebildet, diesmal in Begleitung von Malinche mit ihrem gemeinsamen Sohn, einem der ersten anerkannten Mestizen der Kolonialzeit. Symbolträchtig wohnen diese drei, der Spanier, die Indigene und der Mestize, dem Bau der kolonialen Stadt bei, deren Gesellschaft von ihren Nachkommen gebildet werden würde.
Im Folgenden schließt sich die Darstellung des Unabhängigen Mexikos an. Hier ist keine chronologische Abfolge erkennbar, sondern der Betrachter sieht unabhängige Szenen und historische Personen aus dem Mexiko der Jahre zwischen 1821-1930. Über dem Adler erkennen wir die Helden der Unabhängigkeit José María Morelos und Miguel Hidalgo, der eine zerrissene Kette als Symbol für die Freiheit in seinen Händen hält. Eine Person in Rüstung weist mit einem Schwert auf eine Gruppe bewaffneter Bauern und ruft so den Betrachter zum Kampf auf. Die Aufforderung stimmte ganz mit den Grundsätzen der muralismo-Bewegung überein, mit ihrer Kunst das politische Bewusstsein der Massen zu erwecken und sie zum Handeln auffordern zu wollen.
Am oberen Bildrand stehen Alvaro Obregón und Plutaro Elías Calles, die Präsidenten des postrevolutionären Mexiko. In ihrer Nähe stehen die Revolutionäre Felipe Carrillo Puerto und Emiliano Zapata hinter einem Banner mit dem Revolutions-Slogan "Tierra y Libertad". Unter dem Bogen malte Rivera rechts den Kampf der Liberalen gegen die konservativen Katholiken im 19. Jahrhundert. Der zapotekische Präsident Benito Júarez hält die Verfassung von 1857 hoch. Unter dem linken Bogen kämpfen die Revolutionäre von 1910 gegen Porfirio Díaz, ausländische Ölfirmen, hacienda-Besitzer und Priester. Präsident Venustiano Carranza (1914-1920) zeigt die Verfassung von 1917, die den Bauern und Arbeitern ihre Rechte zusicherte.
Die äußeren Bögen zeigen zwei große militärische Auseinandersetzungen, die Mexiko im 19. Jahrhundert erschütterten: den verlorenen Krieg gegen die USA (1846-1848) und die Invasion der Franzosen (1863-1866), die die Mexikaner letztlich erfolgreich abwehren konnten.
Das dritte Gemälde zeigt die moderne Welt mit der kommunistischen Arbeiterbewegung.
Im unteren Teil wird die Unterdrückung des Volkes in Wirtschaft und Religion gezeigt. Auf der einen Seite Weizen anbauende Land- und Industriearbeiter, auf der anderen devote Gläubige, die vor dem Bild der Vírgen de Guadalupe Geld einwerfen. Eine Inschrift erklärt dabei deutlich Riveras Abneigung gegen die Ausbeutung der Gläubigen durch die Kirche.
Auf dem nächsten Niveau erscheinen Politiker wie José Napoleón Morones, Pascual Ortíz Rubio und Abelardo Rodríguez mit Vertretern des US-amerikanischen Geldadels wie John D. Rockefeller, Henry Sinclair, William Durant, J.P. Morgan, Cornelius Vanderbilt und Andrew Melos.
In aufsteigender Linie hält ein Arbeiter unter einer Sowjetflagge vor den Massen eine Ansprache. Weiterhin sieht man Soldaten mit Gasmasken und die während der Revolution in Brand gesteckte Stadt Mexiko.
Die Szene gipfelt in der Figur von Karl Marx vor einem symbolisch rot leuchtenden Horizont, als Zeichen für eine glückliche, sozialistische Zukunft. Marx zeigt auf eine neue fortschrittliche Gesellschaft, die den Ideen der Revolution entsprechend auf der Industrie, der Landwirtschaft und der Wissenschaft gegründet war. Riveras Interpretation zufolge ersetzt damit letztendlich der Kommunist Marx den vorspanischen Gott Quetzalcoatl und erfüllt damit dessen Prophezeiung einer zukünftigen besseren Welt.
Peggy Goede