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Welt-System und neo-marxistische Theorie

In diesem Bereich sind Theorien zusammengestellt, die als heterodoxe Ökonomie – also als Gegensatz zur orthodoxen,  dominierenden Lehre – bezeichnet werden können. Alle drei hier vorgestellten Theoretiker beziehen sich in ihren Modellen zumindest in Teilen auf das theoretische Gerüst von Marx. Heterodox bezeichnet vor allem bei diesen drei ausgewählten Ökonomen eine starke Abkehr von der Betonung des Individuums und der Theorie der Nutzenmaximierung. Im Gegensatz zu den Ökonomen der Modernisierungstheorie betonen diese die Abkehr von eurozentristischem Entwicklungsmodell und die Bedeutung regionaler Spezifika, die ein Entwicklungsmodell beachten sollte. Regionaler Kontext, wie beispielsweise koloniale Abhängigkeiten und kulturelle Unterschiede sind elementarer Bestandteil der Arbeiten der drei Theoretiker.

a) Elmar Altvater (1938 - )

‚Undogmatischer Marxismus’ ist vielleicht der beste Begriff mit der sich die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit von Elmar Altvater beschreiben lässt. Geprägt durch seine Arbeit und Auseinandersetzung innerhalb der ‚Berliner Schule’ am OSI der FU Berlin ist er mit einer der wichtigsten aktuellen heterodoxen politischen Ökonomen. Seine breitgefächerten inhaltlichen Ausführungen behandeln sowohl das internationale kapitalistische Finanzsystem, die Auseinandersetzung mit Umweltfragen in Zusammenhang mit der aktuellen Gestaltung des Marktsystems als auch entwicklungsökonomische Fragen. Vor allem zu Lateinamerika und hier speziell zur Schuldenkrise der 80er Jahre hat Elmar Altvater wichtige Beiträge geliefert. Einen theoretischen Streit entfachte Elmar Altvater mit einer ‚thermodynamischen’ Interpretation der Sozialwissenschaft (Hein 1993/1994). Altvater führt dabei die Limitation der Ausbeutung der Umwelt als wichtigen Baustein in den entwicklungspolitischen Diskurs ein, indem er argumentativ auf das Entropie-Gesetz – das sich Energie in andere Formen umwandelt und nicht ‚verloren’ gehen kann – der Thermodynamik zurückgreift. Er verbindet in dieser Debatte die Grenzen der Belastbarkeit der Umwelt mit der Entwicklungsökonomie. Produktionsweise und Energiegewinnung sind für Elmar Altvater zwei sich bedingende Teile einer Wirtschaftsform. Aus diesen Überlegungen leitet Altvater die Notwendigkeit einer solaren Revolution ab, die sich nicht nur als wirtschaftlicher Umbruch in der Gesellschaft darstellt, sondern auch als sozialer und politischer.

Globalisierung und die Auswirkung der globalen Vernetzung von Handels- und Kapitalströme auf die Entwicklungsmöglichkeiten von Ländern kennzeichnen das Entwicklungsmodell von Elmar Altvater. Die Begrenzung von  Entwicklung durch die Umwelt bleibt dabei ein wichtiger limitierender Faktor seines Modells. Eine nachholende Entwicklung im Sinne eines modernisierungstheoretischen Entwicklungspfads ist allein schon wegen des hohen Ressourcenverbrauchs ‚entwickelter‘ Länder für ihn nicht denkbar. Um eine regionale und lokale Entwicklung zu ermöglichen fordert Altvater eine supranationale Regulierung von Energieverbrauch, Arbeitsmarkt und Kapitalströme, um der globalen Struktur Rechnung zu tragen.

Limitiert durch die Umwelt setzt sich ‚Glokale’ Entwicklung aus den beiden Aspekten lokale Entwicklung und globale Steuerung zusammen. Der ‚undogmatischen Marxismus’, der sich auch aus Ideen anderer Theorien bedient ist dabei das theoretische Fundament seiner Analysen – so lässt sich das Entwicklungsmodell Elmar Altvaters zumindest in Ansätzen zusammenfassen.

Weiterführende Literatur:

Melber, Henning (2001): Elmar Altvater. Weltmarkt, Entropie und die Grenzen des Kapitalismus. in: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 42 (2). S. 44-46.

Altvater, Elmar (1998): Ort und Zeit des Politischen unter den Bedingungen ökonomischer Globalisierung. in: Messner, Dirk (Hrsg.): Die Zukunft des Staates und der Politik – Möglichkeiten und Grenzen politischer Steuerung in der Weltgesellschaft. Bonn: . S. 74-97.

Altvater, Elmar und Birgit Mahnkopf (1996): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Hein, Wolfgang (1994): Postfordismus und Solargesellschaft.: Anything goes?. Zur Kritik an Elmar Altvaters „Der Preis des Wohlstands“ – ein zweiter Versuch. in: Peripherie 55/56. S. 173-177.

Hein, Wolfgang (1993): Elmar Altvater – Entropie, Syntropie und die Grenzen der Metaphorik. in: Peripherie 51/52. S. 155-170.

b)  Andre G. Frank (1929 - )

André G. Frank gilt als einer der theoretischen Begründer der Dependenztheorie und auch als ein wichtiger Streiter einer – wenn auch von Wallerstein abweichenden – Weltsystemtheorie. Aus einer sehr intensiven persönlichen Auseinandersetzung mit der Modernisierungstheorie (Chicago-School) entwickelte er ein umfassendes Werk um die zentralen Thesen von struktureller Heterogenität und abhängiger Entwicklung begründet auf der historischen, kolonialen Abhängigkeit und Marginalität vieler Länder und Regionen der als „unterentwickelt“ begriffenen Welt. Seine frühen Arbeiten haben einen starken Fokus auf Lateinamerika und betonen dabei die Bedingungen der Entwicklung in einem auf Handel und Handelsakkumulation aufgebauten kapitalistischen System. Lateinamerika – so seine zentrale Analysekategorien – ist dabei der Satellit, welcher der Metropole (Europa) zur Akkumulation und damit zum Reichtum verhilft (Hein 2000). Aus dieser historisch gewachsenen Position der Metropole heraus erscheinen viele Länder der Welt als unterentwickelt. Franks Thesen entsprechen damit weitestgehend einer postkolonialen Kritik der Reproduktion von historischen und kolonialen Machtsystemen.

Neuere Arbeiten von André G. Frank betonen die historischen Abhängigkeiten der heutigen Weltordnung und bauen seine Argumentation im Hinblick auf die Entwicklungstheorie weiter aus. Entwicklung wird in seiner Theorie zur Frage der Teilhabe am Weltsystem und wie die ständige Reproduktion der Geschichte für diese Länder gebrochen werden kann. Dieses Argument ist auch die größte Angriffsfläche für sein Werk: Die ständige Wiederholung der Geschichte ist schwierig zu belegen (Hein 2000:82). Wichtig an seinem Werk ist die Zuspitzung und die bildliche Veranschaulichung der oft komplexen Zusammenhänge seiner Analysen. Seine Thesen erschlossen sich damit für ein breiteres Publikum und wirken so vor allem in der lateinamerikanischen Debatte zu Entwicklung und Unterentwicklung.

Weiterführende Literatur:

Frank, André G. (1969): Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.

Frank, André G. (1974): Lumpenbourgeoisie, Lumpendevelopment – dependence, class and politics in Latinamerica. London: Monthly Review Press.

Frank, André G. (1980): Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung. Frankfurt: Suhrkamp.

Frank, André G. (1998): ReORIENT. Global Economy in the Asian Age. Berkeley: University of California Press.

Hein, Wolfgang(2000): André G. Frank. Metropolen, Satelliten und das Weltsystem. in: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 41 (3). S. 80-83.

Sing, Chew C./ Robert A. Denmark (Hrsg.)(1996): The Underdevelopment of Development. Essays in Honor of André G. Frank. Thousand Oaks/ London/ New Delhi: Sage.

c) Immanuel Wallerstein (1930 - )

Wallersteins Welt-Systemtheorie ist eine der Theorien die sehr viele Diskussionen zur Entwicklungsproblematik ausgelöst hat und vor allem in ihrer methodischen Umsetzung immer noch weiterentwickelt wird. Im Gegensatz zu den Modernisierungstheorien fußt die Welt-Systemtheorie auf einer sehr umfassenden Aufbereitung historischer Zusammenhänge vor allem im Hinblick der Entwicklungen in und mit Afrika (Antweiler 1999: 253). Die vier Bände seiner Welt-Systemtheorie (1974-1988) widmen sich vor allem der Aufarbeitung der Entstehung des europäisch-kapitalistischen Systems seit 1450 bis zur heutigen Zeit. Wallerstein hat damit nicht nur einen Gegenentwurf zu den a-historischen Modernisierungstheorien geschaffen, sondern auch bestehende (post-)koloniale Verflechtungen als eine Ursache für die ‚Unterentwicklung’ afrikanischer und anderer peripherer Staaten modelliert. Grundlage für sein Modell sind neben der marxistischen Kapitallehre die Ansätze der Dependenztheorie.  Peripherie und Zentrum sind auch die wichtigsten Analysekategorien der Welt-Systemtheorie, in der meist Staaten anhand ihrer Position in die jeweilige Kategorie eingeordnet werden können. Zwischen diesen beiden Zonen ist die Semiperipherie die ‚Brückenzone’.

Wallersteins Welt-System ist als Erklärung eines Systems zu verstehen, welches als solches eine Welt formt. Die geografische Welt stellt somit nicht den eigentlichen Rahmen des Welt-Systems dar, da die Einbindung von neuen Regionen und Staaten als Peripherie ein wichtiger Bestandteil des theoretischen Erklärungsmodells des Welt-System darstellt. In der Sicht Wallersteins bilden europäische Staaten wie England, Niederlande und Frankreich die Kernstaaten. Andere Regionen oder Staaten in Ost-Europa, Afrika, Lateinamerika oder Asien sind hingegen der Peripherie zuzuordnen. Nach Antweiler (1999: 254) hat das Welt-System folgende Kennzeichen:

  • Das Welt-System ist eine ökonomische Einheit und keine politische. Die Politik ist in ihrer Wirkung auf die einzelnen Staaten beschränkt, der Handel und die ökonomischen folgen auf das gesamte System.
  • Das Welt-System basiert daher auf staatenübergreifenden Handelsnetzwerken
  • Die Kapitalakkumulation ist die treibende Kraft des Systems, da sie Staaten zu einander in Konkurrenz um Arbeitskräfte und Rohstoffe treten lässt.
  • Obwohl der Prozess historisch beinahe abgeschlossen ist, basiert das Welt-System auf einer Integration von Regionen und Staaten die noch nicht Teil des Welt-Systems sind.
  • Die Expansion verläuft ungleich und es entstehen Subsysteme innerhalb des Welt-Systems. Eine Mobilität zwischen den drei Zonen ist gewährleistet.
  • Eine Dynamik von temporärer Überproduktion, Stagnation und Expansion kennzeichnet das System. Diese Dynamik führt in längerfristigen Abständen zu Transformationen des Welt-Systems.
  • Anti-Systemische Bewegungen sind eine Komponente des Systems.

Das Welt-System dient als Analysemodell um die Position einzelner Staaten und die Auswirkung des Systems auf diesen Staat zu analysieren oder umgekehrt die Auswirkung der Änderungen eines einzelnen Staates auf das gesamte System.

Weiterführende Literatur:

Antweiler, Christoph (1999): Immanuel Wallerstein. Alle Entwicklung ist eingebettet im kapitalistischen Welt-System. in: E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit Vol. 40 (9). S. 253-255.

Wallerstein, Immanuel (1974): The modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth-Century. New York: Academic Press.

Wallerstein, Immanuel (1980): The modern World-System II. Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy. New York: Academic Press.

Wallerstein, Immanuel (1988): The modern World-System III. The second Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy. New York: Academic Press.

Wallerstein, Immanuel (1998): Utopistics. Or, historical Choices of the Twenty-First Century. New York: New Press.