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Malintzin

Wohl kaum eine Frauengestalt der Geschichte Mexikos wurde und wird so kontrovers diskutiert wie die Figur der Malintzin.

Von ihrem Leben erfahren wir hauptsächlich aus der „Historia verdadera de la conquista de la Nueva España“ des Chronisten Bernal Díaz del Castillo, einem Soldaten im Gefolge des spanischen Eroberers Hernán Cortéz.  Malintzin (auch Malinalli genannt) wurde im Jahre 1502 (1505) nahe Coatzalcoalcos, an der Küste von Veracruz, als Tochter eines Kaziken geboren. Nach dem Tod ihres Vaters wurde das Mädchen zunächst als Sklavin an Mayahändler und später weiter nach Tabasco verkauft. Als Hernán Cortéz im Jahre 1519 in Mexiko eintraf kam es u.a. zum Kampf in Tabasco. In Anerkennung ihrer Niederlage übereichten ihm die Tabasken zahlreiche Geschenke, darunter auch zwanzig Sklavinnen. Eine dieser Frauen war Malintzin, die die Spanier nach ihrer Taufe Doña Marina nannten. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist sie als Malinche bekannt, auch wenn dies Díaz del Castillo zufolge eine indigene Bezeichnung für Cortéz selbst gewesen war und ihn als „Herrn der Malintzin“ bezeichnete. Cortéz gab Malintzin zunächst an seinen Offizier Alonso Hernández Portocarrero, erkannte jedoch bald die besonderen Fähigkeiten der Frau. Diese beherrschte seit ihrer Gefangenschaft Maya, doch zusätzlich auch ihre Muttersprache Nahuatl, wie sie die Azteken sprachen, dessen Reich die Spanier zu erobern gedachten. Mit Hilfe eines Spaniers namens Gerónimo de Aguilar, der nach einem Schiffbruch bei den Maya gelebt und ebenfalls deren Sprache erlernt hatte, konnte sich Cortéz nun über Malintzin mit den Azteken unterhalten. Schnell erlernte das Mädchen jedoch das Spanische, was die Kommunikation über Aguilar überflüssig machte. Schon bald wurde Malintzin die Geliebte des Cortéz und gebar ihm im Jahre 1522 einen Sohn namens Martín, der jedoch von seiner Mutter getrennt in Spanien aufwachsen sollte. Am 20. Oktober 1524 heiratete Malintzin während des Hondurasfeldzuges einen Offizier aus Cortéz' Umfeld namens Juan Xaramillo de Salvatierra, dem sie eine Tochter, Maria, gebar. Nach ihrer Rückkehr aus Honduras lebte sie mit ihrem Mann bis zu ihrem Tod, vermutlich im Jahre 1529, in Tenochtitlán.

Doña Marina als liebende Sklavin des Hernán Cortéz Französischer Druck von 1801

Doña Marina als liebende Sklavin des Hernán Cortéz Französischer Druck von 1801
Bildquelle: Museo de América museodeamerica.mcu.es/acceso_catalogo.html

Wenn Malintzin auch eine der Hauptgestalten in den Geschehnissen um die spanische Eroberung Mexikos war taucht ihr Name nur in wenigen Quellen auf. Und selbst Cortéz erwähnt sie in seinen Briefen an Karl V. nur kurz. Schließlich sollten die Leistungen der spanischen Konquistadoren in den Augen der Krone hervorgehoben und der Ruhm allein dem Eroberer aus Extremadura und seinen Gefolgsleuten zugesprochen werden. Hilfeleistungen von indigenen Verbündeten, ohne die die Eroberung, sowohl Mexikos als auch Perus, nicht möglich gewesen wäre, wurden daher gerne verschwiegen. Und Malintzin stellte nicht nur eine minderwertige indígena dar, sondern war zudem eine Frau, die als solche sowohl in der aztekischen wie in der spanischen Welt eine untergeordnete Rolle innehatte. Malintzin entsprach jedoch in keiner Weise einem Stereotyp, und war daher in beiden Kulturen schwer einzuordnen, was ihr Bewunderung aber auch Misstrauen einbrachte. Als Sklavin wurde sie verkauft, an die Spanier verschenkt und auch unter diesen weitergereicht, eine Praxis, die in beiden Welten durchaus üblich war. Doch vielleicht war es gerade diese gängige Erwartung an sie als Frau sich zu unterwerfen, die ihr die schnelle Anpassung an die fremde spanische Kultur ermöglichte. Auch in den Chroniken zeigt sich diese mindere Zuordnung, als Díaz del Castillo zwar Malintzins Sprachtalent mit ihrer Benennung als „la lengua“ (die Zunge) ausdrückt, doch damit gleichzeitig suggeriert, dass sie nur ein passives Instrument für Cortéz war.

Malintzins Sprachbegabung und ihr diplomatisches Geschick war für Cortéz jedoch ein Glücksfall, da sie die Denkweise der Völker in Mesoamerika kannte und so ihre Übersetzungen oft mit eigenen, hinzugefügten Erklärungen ergänzte, was die Geschehnisse sicher beeinflusst haben mochte. Als Führerin und politische Beraterin von Cortéz versorgte sie ihn mit wichtigen geografischen Informationen und offenbarte ihm die Stärken und Schwächen des Aztekenreiches. Besonders ihr Hinweis, dass es überall im Lande starke Aversionen gegen die tyrannische Herrschaft Montezumas II. gäbe, verschaffte Cortéz zahlreiche Verbündete und dadurch den entscheidenden Vorteil.  Weiterhin sorgte Malintzin auf ihrer Reise nach Tenochtitlán (heutiges Mexiko Stadt) für Unterkunft und Verpflegung, was ihr unter den Soldaten einen hohen Beliebtheitsgrad einbrachte. Eine besondere Rolle spielte sie bei einem Hinterhalt im Ort Cholula vor dem sie die Spanier warnte. Dadurch rettete sie zwar die Konquistadoren, setzte jedoch die Verantwortlichen in Cholula der grausamen Strafe von Cortéz aus. Es war besonders dieser Umstand, der Malintzin Jahrhunderte später vorgeworfen werden sollte, auch wenn dabei außer Acht gelassen wurde, dass auch die Tlaxkalteken ihre Verbündeten vor den verhassten Feinden in Cholula gewarnt hatten. All diese Vorfälle ließen sie in den Augen der Spanier in positivem Licht erscheinen und Chronisten wie Díaz del Castillo bewunderten ihre Intelligenz und Überzeugungskraft. Doch auch in den Augen der Europäer war sie schwer einzuordnen und Castillo sprach ihr „männliche“ Qualitäten wie Mut zu, ähnlich wie es die Spanier von den griechischen Amazonen her kannten. Dieses Frauenbild spiegelte sich auch in den Amazonensagen Südamerikas wider.

Die Azteken standen Malintzin von Anfang an misstrauisch gegenüber. Sie sahen ihre ungewöhnlichen Sprachfähigkeiten als göttliche Fähigkeit an und fürchteten zudem ihren Einfluss auf die Spanier. Indigene Quellen beschreiben sie als eine unheilbringende Göttin, da sie am Tag malinalli geboren worden war, ein düsteres Zeichen, dem sie ihren Namen verdankte. Sie wurde mit der rebellischen Schwester des aztekischen Kriegsgottes Huitzilopochtli mit Namen Malinalxochitl in Verbindung gebracht, die für Verrat und schwarze Magie stand.

Indigene bildliche Darstellungen der Malintzin wie sie z.B. im sogenannten Florentiner Codex von Bernadino de Sahagún oder im Lienzo de Tlaxcala zu sehen sind, zeichnen dagegen ein positiveres Bild. Eine deutliche Bildsymbolik stellt sie mit ihrer zentralen Stellung als Mittlerin zweier Kulturen in den Vordergrund. Ähnlich wie bei den Ňustadarstellungen in Peru ist auch Malintzin in einer traditionellen Kleidung dargestellt, die sie als Angehörige der indigenen Oberschicht auszeichnet. Einzige Ausnahme sind ihre Schuhe, ein Merkmal, dass sie auch in den Augen der Europäer aufwertete.

Ihre Repräsentationsform änderte sich jedoch im 17. und 18. Jahrhundert als das koloniale Gesellschaftssystem sich gefestigt hatte. Bildete Malintzin in frühen Abbildungen noch das Zentrum des Dialogs, führte die Truppen an oder befand sich mitten im Kriegsgeschehen, folgte sie nun der Hautperson Cortéz bescheiden. Und auch in ihrem Aussehen und ihrer Kleidung ähnelte sie nun eher einer Mestizin oder Kreolin.

Hernán Cortéz und Malintzin treten auf die indigene Rasse Wandmalerei von José Clemente Orozco, 1926 Escuela Nacional Preparatoria de México, Mexiko Stadt

Hernán Cortéz und Malintzin treten auf die indigene Rasse Wandmalerei von José Clemente Orozco, 1926 Escuela Nacional Preparatoria de México, Mexiko Stadt
Bildquelle: Ingrid Kummels

Der radikale Perzeptionswandel kam jedoch mit der mexikanischen Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert. Mit der Vertreibung der Spanier im Jahre 1821 und dem aufkommenden Nationalismus mutierte der Begriff malinchismo zum Äquivalent für den Verrat am eigenen Volk, die opportunistische Bevorzugung fremder Kulturen, gemischt mit einer Verachtung der indigenen Lebensweise, die in  einem Gefühl der Minderwertigkeit gründete. Die Nationalisten suchten nach einer neuen Identität und verachteten alles Spanische, während sie die vorspanische Vergangenheit glorifizierten. Zwei gegensätzliche Frauenbilder wurden geschaffen, das der reinen Jungfrau, idealisiert im Bild der Maria von Guadalupe und das der lasziven Eva, die die Erbsünde über die Welt gebracht hatte. Letztere sahen die Nationalisten in der Figur der Malintzin personifiziert, die sich in ihren Augen den Spaniern hingegeben, ihr Volk verführt und es in die Verdammnis geführt hatte. Fortan verkörperte der Name Malintzin Landesverrat und Treuebruch und sie wurde so in einer politischen Kampagne zum Sündenbock für die erduldete koloniale Herrschaft.
Diese neue Wahrnehmung schuf gleichzeitig ein bestimmtes Frauenbild, das der Muralist José Clemente Orozco aufgriff als er 1926 ein Wandgemälde mit Malintzin und Cortéz anfertigte auf dem ihren nackten Körper sich über den ermordeten Indigenen räkelten und auch andere Wandmalereien wie die von Diego Rivera beeinflussten die Wahrnehmung der Mexikaner.

Seit den 1980er Jahren stellt Malintzin eine Referenzfigur in den Diskussionen über Nation und Geschlechterdifferenz dar. Sie wurde zur Grenzgängerin zwischen den Kulturen und war Ausgangspunkt feministischer Debatten durch Chicana-Autorinnen. Diese in den USA lebenden und meist vor Ort geborenen Mexikanerinnen waren auf der Suche nach einem neuen Frauentypus und griffen dabei auf berühmte, wenn auch umstrittene Figuren der mexikanischen Vergangenheit zurück und versuchten sie umzuwerten. Eine der wichtigsten Identifikationsfiguren war dabei die Malintzin. Die Chicanas kreierten mit ihren Schriften eine neue Sichtweise, in der die Malintzin zur Heldin wurde, die sich aus ihrer angestammten Opferrolle durch ihren Mut, ihren Überlebenswillen und ihre Fähigkeiten befreien konnte. Diese Eigenschaften verwandelten ihr Bild nach und nach in ein feministisches Vorzeigemodel.

Trotz ihrer nach wie vor kontroversen Rolle ist Malintzin im heutigen Mexiko allgegenwärtig. Es gibt zahlreiche Theaterstücke, Gedichte, Lieder und Schriften berühmter mexikanischer Größen und auch aus der mexikanischen Folklore ist sie nicht wegzudenken. So führen viele Orte Mexikos jährliche „Malinche-Tänze“ auf und auch der Charakter der „llorona“ (der Weinenden), deren Geist ruhelos in den Straßen von Mexiko-Stadt umherirrt und der um die von ihr ermordeten Kinder weint, wird häufig mit Malintzin verbunden. Nach wie vor genießt die Figur der Malintzin eine sehr geteilte Wertschätzung. So hat Mexiko zahlreiche Museen und Denkmäler, die seiner Geschichte gedenken, am Haus der Malintzin in Coyoacán, in dem sie mit Cortéz zusammen lebte, erinnert jedoch nicht einmal eine Plakette an die berühmte einstige Bewohnerin.

 

Peggy Goede, Oktober 2011